Vorwort – Teil 1

Kritisches Forschen, kritisches Prüfen ist das wahre spirituelle Vorgehen. Das ist wahre Religion.

J. Krishnamurti, Madras, 14. Januar 1981

Diese Sammlung von Gesprächen mit Krishnamurti ist meine Hommage für einen zutiefst religiösen Revolutionär, die von einer Lehre des Mitgefühls und der Freiheit zeugt. 

Krishnamurti – Krishnaji für seine Freunde – wies jegliche spirituelle Autorität zurück. Ihm ging es vor allem um ein Wahrnehmen der Ganzheit und um die Freiheit des Geistes vom Reiz-Reaktions-Mechanismus. Für ihn waren alle Überzeugungen und Ideale nichts als lähmende Illusionen, die die Beziehung des Menschen zur Natur und zu seinen Mitmenschen verfälschen und in allen Lebensbereichen zu Konflikten führen.

Krishnamurtis Vorgehen, die Wahrheit zu enthüllen, ist heute genauso bedeutsam, wie sie es in den kommenden Jahrhunderten sein wird.

In Indien gibt es eine alte Tradition des religiösen Diskurses, die auf Dialog und Zweifel Wert legt, weil sie von entscheidender Bedeutung für die Enthüllung der Wahrheit sind. Aber Krishnaji lehnte die beim Gespräch zwischen Guru und Schüler bestehende Hierarchie ab. Es gab nichts, woran man sich fest¬halten konnte. Kein Guru, kein Buch, keine Tradition konnte Antworten auf die Fragen des Lebens geben oder den menschlichen Geist von seinen Fesseln befreien. Der Suchende, der Fragende, der leidende Mensch musste selbst die volle Verantwortung übernehmen.

Anfangs fiel es uns, seinen Zuhörern, schwer zu verstehen, was hinter seinen Worten steckte. Einige wenige waren sich bewusst, dass es ein Inneres gab, das man entdecken oder erkunden konnte. Mit unendlicher Geduld wies Krishnaji immer wieder auf die Notwendigkeit hin, den Geist langsamer werden zu lassen, innezuhalten, nachzudenken, die Dinge schonungslos zu hinterfragen, das Denken ohne Bewertung zu beobachten und es als das wahrzunehmen, ›was ist‹

Wir waren in einer Bildungstradition erzogen worden, die großen Wert auf Vernunft und die Erkenntnis legte, dass die äußere Welt die Wirklichkeit ist. Religiosität beruhte in unseren Augen allein auf Glauben und [blindem] Gottvertrauen. Anfangs war es uns fast unmöglich, zuzuhören und wahrzunehmen, was in unserem Innern vor sich ging. Doch da war die Sehnsucht zu entdecken, was sich am Grund des menschlichen Geistes verbarg.

Von selbst kristallisierte sich eine bestimmte Form heraus. Krishnaji saß mit uns im Kreis und lauschte mit großer Aufmerksamkeit den Fragen der Gesprächsteilnehmer. Nie gab er eine unmittelbare Antwort; er hielt inne, stellte eine Gegenfrage oder gab die Frage an den Fragenden zurück. Er stellte fest, dass er auf diese Weise eine direkte Verbindung zum Bewusstsein seiner Gesprächspartner herstellen konnte, er ihnen so näher kommen und besser verstehen konnte, vor welchen Hindernissen sie standen, wenn es darum ging, das Denken klar und unverzerrt wahrzunehmen. Er wusste, wann eine Frage aus dem direkten Wahrnehmen heraus gestellt wurde oder wann sich [beim Fragesteller] im Verlauf des Zuhörens eine Gegenfrage als Gedanke im Gehirn geformt hatte, die dem Gedächtnis entstammte. In diesem Fall war das Bewusstsein gespalten, und ein tief gehendes Zuhören war unmöglich.

Es war entscheidend, Krishnaji mit voller Aufmerksamkeit zuzuhören, ihm kritisch zuzuhören, ihn sogar herauszufordern, denn nur durch die Herausforderung enthielten seine Antworten das Licht tiefer Einsichten. Doch wenn unser Geist einfach nicht verstehen konnte, pflegte Krishnaji wohlwollend und leichthin  zu sagen: »Fangen wir noch mal von vorne an. Das ist Geduld. Diese Geduld enthält keine Zeit. Ungeduld enthält Zeit.«

Krishnajis Vorgehensweise war vollkommen neu und forderte von uns die Energie, wirklich zuzuhören, wahrzunehmen, zu hinterfragen und uns hinterfragen zu lassen. Auch für ihn war es eine Herausforderung. Manchmal kamen ihm neue Einsichten, während er etwas untersuchte. Er wollte in uns unbedingt eine Intelligenz wecken, die noch keine feste Form angenommen hatte und nicht durch Worte geprägt war. Nur mit einem solchen freien Geist konnten wir mit ihm in die Tiefen des Bewusstseins reisen. »Allein schon beim Zuhören ohne Anstrengung geschehen Wunder, das Licht durchdringt die Dunkelheit.«

Da er unsere Verwirrung spürte und sich unserer Unfähigkeit zuzuhören bewusst war, fragte er uns: »Was ist Selbsterkennen? Wie kann man sich selbst erkennen? Etwa durch das Beobachten eines Gedankens, der einem in den Sinn kommt? Wir lassen den ersten Gedanken nur ungern los, und deshalb entsteht ein Konflikt. Oder bedeutet Selbsterkennen etwa, den ersten Gedanken erlöschen zu lassen, den zweiten wahrzunehmen, dann den dritten, dann den dritten fallen zu lassen und den vierten zu verfolgen, so dass man den Denkvorgang ständig wach und bewusst wahrnimmt und eine Energie lebendig ist, die durch Aufmerksamkeit freigesetzt wurde?«