Energie und Aufmerksamkeit – Teil 1

Pupul Jayakar (PJ): Die meisten von uns wissen, dass auf Grund der verschiedenen Belastungen, denen der menschliche Geist durch Gewalt und Terror ausgesetzt ist, der Raum zum Erforschen komplexer Situationen immer kleiner wird und dass wir unfähig sind, sie zu erfassen. Ich würde vorschlagen, dass wir darauf verzichten, spezifische Probleme zu besprechen und stattdessen zunächst die Beschaffenheit des menschlichen Geistes aufdecken, um uns mit den Mechanismen des Denkens zu konfrontieren, denn nur so wird jeder Einzelne von uns in der Lage sein, die komplexen Vorgänge zu untersuchen, die unser Bewusstsein beschäftigt halten.

J. Krishnamurti (K): Wir haben in allgemein und leicht verständlichen Worten miteinander über den Vorgang der Angst gesprochen. Wie hast du diesen Ausführungen gelauscht? Wie hast du diese Ausführungen gelesen und welche Wirkung hatten sie auf dich? Wir haben gesagt, dass Verlangen, Zeit, Denken und die verschiedenen Verletzungen – dass all das zusammen Angst ist. Was hat diese Aussage in dir bewirkt? Hat sie dich nur auf der verbalen, rationalen Ebene erreicht oder hat sie einen wirklich tiefen Eindruck hinterlassen? Haben wir auf einer Ebene kommuniziert, wo du die Wahrheit des Gesagten gesehen hast? 

Pupul, nehmen wir an, dass du mir diese ganze Sache nicht nur mit Worten beschreibst, sondern ihre tiefste Wahrheit vermittelst. Wie lausche ich dieser Aussage? Ich widerspreche nicht und vergleiche das Gesagte auch nicht mit etwas, das ich bereits kenne, sondern ich höre dir wirklich zu. Das Gesagte dringt in mein Bewusstsein. Es dringt in den Teil des Bewusstseins, der bereit ist, das Gesagte vollkommen zu verstehen …

PJ: Wir sprechen über die Zukunft des Menschen, über die Gefahr, dass moderne Technologien die Aufgaben des Menschen übernehmen. Die Menschheit ist wie gelähmt. Du hast gesagt, dass dem Menschen nur zwei Möglichkeiten bleiben: Er kann entweder den Weg des äußeren Vergnügens wählen oder den Weg der inneren Transformation. Ich frage dich nach dem ›Wie‹ der inneren Transformation. 

K: Wenn du nach dem ›Wie‹ fragst, fragst du nach einem System, einer Methode, einer Praxis. Das ist offensichtlich. Niemand fragt aus einem anderen Grund nach dem ›Wie‹. Wie soll ich Klavier spielen? Wie soll ich dieses oder jenes tun? Das Wort ›wie‹ deutet bereits auf eine Methode, eine Vorgehensweise hin. Wenn du also ›wie‹ fragst, bist du wieder bei den alten Mustern des Wissens, der Erinnerung, der Erfahrung, des Denkens und des Handelns angelangt. 

Können wir das ›Wie‹ für den Augenblick beiseite lassen und den Geist oder das Gehirn beobachten? Ist eine reine Beobachtung des Geistes möglich, ein Beobachten, das nichts mit Analysieren zu tun hat? Beobachtung ist etwas völlig anderes als Analyse. Analyse ist immer mit der Suche nach einer Ursache verbunden, da gibt es den Analysierenden und das Analysierte. Und das bedeutet, dass der Analysierende vom Analysierten getrennt ist. Diese Trennung ist ein Trugschluss, sie existiert nicht wirklich – das Wirkliche ist das, was ›jetzt‹ geschieht.

Beobachten hat nicht das Geringste mit Analysieren zu tun.  Ist es möglich, ohne irgendeine Schlussfolgerung, ohne Ziel oder Motiv zu beobachten? Ist reines, klares Schauen möglich? Natürlich, es ist möglich, wenn du diese wunderschönen Bäume anschaust. Es ist ganz einfach. Das heißt, ich kann den Baum unverfälscht sehen, weil ich mit meinen physischen Augen schaue, und in diesem Schauen hat der analytische Prozess keinen Platz. Ich gehe darüber hinaus. Aber den gesamten Strom der Existenz zu betrachten, ihn ohne die geringste Verzerrung zu beobachten ist – normalerweise – etwas ganz anderes. 

Da stellt sich die Frage: Kann ich das gesamte Geschehen der Angst anschauen, oder besser, ist es möglich, es zu beobachten, ohne dass man versucht, die Ursachen zu ergründen, oder sich fragt, wie man der Angst ein Ende bereiten kann, oder sie zu unterdrücken versucht oder vor ihr flieht? Ist es möglich, einfach zu schauen und bei dem gesamten Vorgang der Angst zu bleiben. Mit ›dabei bleiben‹ meine ich ein Beobachten, bei dem keine Regung des Denkens die Beobachtung stört. Ich sage, dass mit dieser Art des Beobachtens Aufmerksamkeit einhergeht. Dieses Beobachten ist totale Aufmerksamkeit. Es ist keine Konzentration, sondern Aufmerksamkeit. Es ist so, als richtete man ein helles Licht auf ein Objekt, und durch das Bündeln dieser Energie, die Licht ist, auf diesen Vorgang, endet die Angst. Analyse kann die Angst nie beenden, du kannst das selbst überprüfen. Die Frage ist also: Ist mein Geist zu einer solchen Aufmerksamkeit fähig, einer Aufmerksamkeit, die die gesamte Energie meines Verstandes, meiner Gefühle, meiner Nerven mobilisiert, so dass ich diesen Vorgang der Angst ohne Widerstand, ohne Verstärkung oder Ablehnung anschauen kann?

PJ: Das Denken wird aber beim Beobachten wach und es bleibt nicht bei der Beobachtung der Angst. Was geschieht dann mit diesen Gedanken? Schiebt man sie beiseite? Was kann man tun? Das Denken kommt ins Spiel, auch das ist eine Tatsache. 

K: Hör einfach zu. Der Redner hat nicht nur von persönlichen Ängsten, sondern von den Ängsten der ganzen Menschheit gesprochen, die diesen Strom ausmachen, den Strom, zu dem das Denken, die Zeit und der Wunsch gehören, das zu beenden, darüber hinaus zu gehen. All das ist der Vorgang der Angst. Kannst du sie einfach anschauen, kannst du sie ohne jede Regung beobachten? Denn jede Regung ist Denken. 

PJ: Du kannst sagen, dass dieser Vorgang Angst ist, aber beim Beobachten kommt das Denken ins Spiel; das ist eine Tatsache.