Kann sich das Gehirn erneuern? – Teil 1
Pupul Jayakar (PJ): Ich habe mich gefragt, ob wir über eine Art Neugeburt im menschlichen Geist sprechen können, ich meine, über die Frage, ob ein alter, erschöpfter Geist, der kaum noch wahrnehmungsfähig ist, sich selbst vollkommen erneuern kann? Kann er zu einer neuen Wahrnehmungsfähigkeit gelangen? Denn viele von uns kennen doch das Problem, dass ihr Geist mit zunehmendem Alter seine schnelle Auffassungsgabe …
J. Krishnamurti (K): Verliert.
PJ: Ja, dass die Fähigkeit nachlässt, Dinge wahrzunehmen und in der Tiefe zu erfassen.
K: Fragst du, ob es möglich ist, den Geist ganz jung zu erhalten, obgleich er uralt ist?
PJ: Ja. Du gebrauchst das Wort ›uralt‹. Du hast es wiederholt gebraucht. Ich möchte gerne wissen, was mit diesem Wort gemeint ist. Dieses ›uralt‹, von dem du sprichst, hat offensichtlich nichts mit Zeit im Sinne eines Gestern zu tun. Wie ist ›uralt‹ dann zu verstehen?
K: Schauen wir es uns genauer an. Das menschliche Gehirn verfügt schließlich – so weit wir es verstehen und die Wissenschaft seine Natur und Funktionsweise erforscht hat – über seine eigenen Schutzmechanismen. Schock oder Schmerz lösen beispielsweise eine chemische Schutzreaktion aus.
Das menschliche Gehirn ist sehr, sehr alt. Es hat sich vom Affen zum Menschen entwickelt. Es hat sich im Verlauf der Zeit und durch unzählige Erfahrungen entwickelt. Es hat eine ungeheure Menge an äußerem und innerem Wissen angesammelt, und deshalb ist es tatsächlich uralt. Soweit ich es verstehe, ist es kein persönliches Gehirn, es ist nicht ›mein‹ Gehirn oder ›dein‹ Gehirn.
PJ: Aber ganz offensichtlich tragen dein Gehirn und mein Gehirn unterschiedliche Formen des Uralten in sich.
K: Warte. Ich untersuche das nur, ich füge mal die ersten Bausteine zusammen. Sehen wir es als erwiesen an, dass das Gehirn uralt ist und dass unsere Gehirne keine individuellen Gehirne sind?
PJ: Ja.
K: Unsere Gehirne sind keine individuellen Gehirne. Vielleicht haben wir das Gehirn zu einer persönlichen Sache gemacht. Tatsächlich leben die meisten Menschen mit der Vorstellung, es gebe ›mein‹ Gehirn und ›dein‹ Gehirn. Aber das Gehirn kann sich nicht über die ganze Zeit hinweg als ›mein‹ Gehirn entwickelt haben. Ich finde, eine solche Vorstellung ist offensichtlich absurd.
PJ: Ja.
K: Ja, aber unglücklicherweise denken die meisten von uns, unser Gehirn sei etwas Persönliches. ›Mein‹ Gehirn – aus dieser Vorstellung entspringt die ganze Grundidee vom Individualismus.
PJ: Ja.
K: Können wir nun sagen, dass dieses uralte Gehirn so konditioniert wurde, dass es oberflächlich, ziemlich primitiv, vulgär und künstlich wurde? Hat es etwas verloren, das tief im Unbewussten eingebettet ist?
PJ: Aber ein uraltes Gehirn ist – wie du gerade sagtest – das Produkt der Evolution innerhalb der Zeit.
K: Natürlich. Evolution bedeutet Zeit.
PJ: Die Jahrhunderte lange Suche …
K: Seit Anbeginn der Zeit muss sich der Mensch gefragt haben …
PJ: Ja, der Mensch hat sich gefragt, ob es möglich ist, das Gehirn von der Zeit zu befreien – Zeit, die Bestandteil dieses Alterungsprozesses ist. Wenn du von einem uralten Gehirn sprichst, dann sprichst du von einem Gehirn, dessen Bestandteil auch …
K: … die Möglichkeit des eigenen Verfalls ist? Ja.
PJ: Warum ist das so?
K: Es ist so, weil es durch Erfahrung und Wissen begrenzt wurde, konditioniert wurde, eingeengt wurde. Je mehr Wissen das Gehirn ansammelt, desto mehr begrenzt es sich selbst. Nicht wahr?
PJ: Du scheinst auf zwei Dinge hinzuweisen, Krishnaji. Das Eine ist das Alter, die Last der Vergangenheit, die dem Gehirn das Gefühl gibt, sehr alt zu sein, weil es seit vielen tausend Jahren existiert. Und die ganzen Erfahrungen …
K: … haben es konditioniert, eingeengt, begrenzt.
PJ: Aber wenn du von einem ›uralten‹ Gehirn sprichst – meinst du damit ein Gehirn, das durch die Zeit Erfahrungen gemacht hat?
K: Nein. Wir kommen noch darauf zurück. Aber lass uns zunächst einmal schauen, wie uralt es im üblichen Sinne des Wortes ist und wie es sich – in den Jahrtausenden voller Erfahrungen – begrenzt hat. Deshalb trägt es den eigenen Verfall bereits in sich. Und das Leben in unserer modernen Welt – mit all ihrem Lärm, den furchtbaren Erschütterungen und Grausamkeiten des Krieges – hat das Gehirn noch mehr begrenzt, in noch mehr Konflikte verstrickt. Gerade diese Begrenzung erzeugt ihren eigenen Konflikt.
PJ: Da ist ein Geist, der auf Grund der in vielen Jahrtausenden angesammelten Erfahrungen eine gewisse Enge und Schwere bekommen hat.
K: Ja, ganz richtig.
PJ: Und dann ist da ein Geist, der schwach ist und sich leicht selbst zerfrisst.
K: Du gebrauchst die Wörter ›Geist‹ und ›Gehirn‹. Wovon sprichst du?
PJ: Vom Gehirn.
K: Dann bleib beim Gehirn. Benutze nicht das Wort ›Geist‹.
PJ: Ich werde also das Wort ›Gehirn‹ benutzen. Das Gehirn hat eine gewisse Schwere und Enge.
K: Ja. Es ist auf gewisse Weise primitiv und schwerfällig.
PJ: Ist es das, was du mit ›uralt‹ meinst?
K: Nicht ganz. Wir wollen uns langsam herantasten. Akzeptieren wir, dass sich das Gehirn durch seine eigene Evolution selbst konditioniert hat, und deshalb die Fähigkeit zur Selbstzerstörung in sich trägt?
PJ: Ja.