Das Ende der Angst – Teil 1
Pupul Jayakar (PJ): Ich würde bei diesem Gespräch gerne so mit dir sprechen, als stellte ich dir zum allerersten Mal eine Frage. Ich leide, und da ich in meinem Leid gefangen bin, frage ich nach dem Weg, der aus diesem Leid heraus führt. Du hast einmal den Weg der Selbsterkenntnis als Ausgangspunkt des Forschens bezeichnet, und deshalb frage ich dich: »Wo fängt man an. Was ist der Ausgangspunkt des Forschens?«
J. Krishnamurti (K): Zunächst müssen wir verstehen, dass alle Probleme miteinander in Beziehung stehen. Es gibt kein einzelnes Problem, das unabhängig von anderen Problemen existiert. Sie sind alle eng miteinander verknüpft, und wenn wir ein Problem direkt und tief greifend lösen oder verstehen könnten, hätten wir tatsächlich alle Probleme gelöst.
PJ: Ich bin ein einfacher Mensch. Ich weiß nicht, was es heißt, tief genug zu schürfen, um ein Problem zu lösen.
K: Nehmen wir die Angst als Beispiel, denn alle Menschen kennen sie. Ob du im Westen oder im Mittleren Osten, im Fernen Osten oder in Indien lebst, du wirst feststellen, dass Angst ein Grundproblem des Menschen ist. Und es ist ihm bis heute nicht gelungen, dieses Problem zu lösen. Seit Jahrtausenden schleppt der Mensch es mit sich herum. Um dieses Problem, um die Angst, verstehen zu können – die unseren Geist und unser Herz verkrüppelt und unser Handeln lähmt –, müssen wir uns zuerst darüber im Klaren sein, wie wir dieses Problem angehen wollen.
PJ: Was meinst du mit ›angehen‹?
K: ›Angehen‹ bedeutet ›nahe kommen‹, ›damit in Kontakt kommen‹, ›ganz, ganz nahe sein‹ …
PJ: Wie kommt man einem Problem wie der Angst nahe? Angst taucht auf, und wir wollen instinktiv weglaufen, uns davon entfernen, sie unterdrücken, alles tun, um sie zu meiden. Aber du sagst: »Komm ihr nahe.«
K: Ja, komm ihr nahe.
PJ: Was bringt diese Nähe mit sich?
K: Zunächst einmal ist es völlig sinnlos, vor ihr davonzulaufen. Du flüchtest dich vielleicht in Gottesdienste, Gebete, alle möglichen Formen der Unterhaltung – so genannte religiöse und auch andere. Aber wenn all das vorbei ist, wenn die Gebete verklungen sind, stehst du wieder da, wo du vorher warst. Die Angst ist immer noch da. Du hast das Problem nicht wirklich gelöst. Es hat also keinen Sinn, vor der Angst zu fliehen. Das ist der erste Punkt.
PJ: Wenn man ihr nicht entkommen kann, muss man erkennen, auf welche Weise man vor ihr wegläuft.
K: Natürlich; man muss wissen, auf welche Weise man flüchtet.
PJ: Um zu sehen, auf welche Weise man flüchtet, muss man das beobachten.
K: Ja, zuerst muss man die Angst beobachten.
PJ: Wie beobachtet man die Angst, und wo beobachtet man sie?
K: Ist diese Angst von dir getrennt – ist sie irgendetwas dort draußen, das gar nichts mit dir zu tun hat – oder bist du diese Angst? Angst ist nicht etwas anderes als du, Pupul, du bist Angst.
PJ: Angst existiert nicht außerhalb von uns; sie ist für uns etwas Inneres.
K: Genau.
PJ: Wir betrachten uns als von dem getrennt, was in uns aufsteigt.
K: Das ist das eigentliche Problem: dass wir mit unseren Reaktionen immer so umgehen, als wären sie etwas anderes als wir – die Beobachter.
PJ: Du bringst es auf eine Ebene, wenn ich das sagen darf, wo ich den Kontakt zu dir verloren habe.
K: In Ordnung. Wir wollen ganz langsam vorangehen, Schritt für Schritt.
PJ: Ja.
K: Schauen wir uns die Sache genau an. Ich habe beispielsweise Angst.
PJ: Ja, so viele verschiedene Ängste.
K: Nein, Pupul, die Erscheinungsformen meiner Angst können sich ändern, aber Angst ist …
PJ: Angst ist ein schrecklicher Vorgang, der einen innerlich schrumpfen lässt. Und nun sagst du: »Beobachte das, schau es dir an.« Aber ich kann nicht schauen, wenn mich die Angst im Griff hat.
K: Oh doch, das kannst du. Wenn Angst hoch kommt, dann schau sie dir an, verstehe sie. Erforsche sie und finde heraus, was die Ursache ist.
PJ: Kann man forschen, wenn man voller Angst ist?
K: Oh, ja. Es erfordert allerdings Aufmerksamkeit, eine gewisse Wachheit. Schau, ich nehme meine Umgebung bewusst wahr; ich bin mir der Größe dieses Raumes bewusst.
PJ: Ja.
K: Ich kann dies und jenes darüber sagen, etwa dass er hässlich oder nicht gut proportioniert ist, aber ich nehme ihn bewusst wahr.
PJ: Ja.
K: Genauso kann ich mir auch meiner Angst bewusst sein. Ich habe Angst, ich könnte sterben. Ich habe Angst davor, meine Arbeitsstelle zu verlieren. Ich habe Angst vor etwas, das jetzt oder in der Vergangenheit geschehen ist. Ich habe Angst vor etwas, das in der Zukunft geschehen könnte.
PJ: Wenn du sagst, dass ich mir der Angst bewusst sein kann, dann kann ich mir ihrer als verbale Feststellung bewusst sein.
K: Nein, nein, nein. Pupul, das ist …
PJ: Ja, ich kann mir ihrer auch als eines inneren Zustands bewusst sein.
K: Sie ist ein Teil von mir!
PJ: Wenn du sagst, dass sie ein Teil von mir ist, verstehe ich das nicht. Aber ich kann mir der inneren Anzeichen der Angst bewusst werden. Ich nehme also meine äußere Umgebung und die Anzeichen der Angst in meinem Innern bewusst wahr. Und wie geht es jetzt weiter?