Das Buch der Menschheit – Teil 1
Pupul Jayakar (PJ): Krishnaji, gestern sprachst du vom Lesen im ›Buch des Selbst‹, das ja das Buch der Menschheit ist. Und du stelltest eine Frage: Mit welchem Instrument schaue ich da hinein?
Dieses Buch ist nie vollständig. Wir erschaffen es beim Lesen. Indem wir etwas beobachten, erschaffen wir gleichzeitig die Zukunft. In diesem Zustand der ständigen Veränderung tauchen aber ein oder zwei Fragen auf, die geklärt werden müssen. Seit unserer ersten Begegnung ist das, ›was ist‹, immer wieder Thema unserer Gespräche gewesen. Aber von welcher Beschaffenheit ist das, ›was ist‹, was ist seine Natur? Was ist das Wesen dessen, was wir sehen? Denn solange wir uns nicht über die Natur oder das Wesen des Gesehenen im Klaren sind, können wir uns auch nicht über das Instrument des Sehens im Klaren sein. Können wir dieses ›was ist‹ also etwas genauer untersuchen?
J. Krishnamurti (K): Die gesamte, etwa vierzigtausendjährige Geschichte des Menschen ist Teil unseres Bewusstseins, sie ist mit unserer eigenen Geschichte verwoben. Jeder Mensch repräsentiert die gesamte Geschichte der Menschheit. Wenn wir das als gegebene Tatsache akzeptieren, dann ist das Denken das einzige Instrument, mit dem wir diese überwältigend vielschichtige Geschichte entziffern können. Und es ist tatsächlich das einzige Instrument, das uns zur Verfügung steht. Das Denken hat das Vergangene geschaffen und der menschliche Geist ist die Ablagerung, der Speicher all dessen, was sich in der Vergangenheit angesammelt hat: die vergangenen Erfahrungen, der ganze Aberglaube, die Glaubensvorstellungen, die verschiedenen Götter, Rituale und so weiter. Die gesamte Bewegung der Menschheit-in-der-Zeit bildet den Hintergrund in jedem einzelnen menschlichen Wesen. Wenn wir diese Tatsache einmal erkannt haben, können wir sie als Ausgangspunkt benutzen. Denn wie können wir, wenn wir uns darüber nicht im Klaren sind, dieses ungeheuer umfangreiche und komplizierte Buch des Wissens lesen?
PJ: Das Erbe der Menschheit ist offensichtlich mein Erbe. Diese beiden Dinge sind nicht voneinander getrennt.
K: Aber nur wenige Menschen sind bereit, das zu akzeptieren.
PJ: Nein, ich bin sicher, dass die meisten Menschen das auf einer bestimmten Ebene akzeptieren.
K: Ich bezweifle das.
PJ: Das Erbe der Menschheit gehört nicht einer einzelnen Person. Alles, was je geschah, die Vorstellungen und Ideen, die das Gehirn geformt und geprägt haben, ja die gesamte Entwicklung der menschlichen Rasse, ist allen Menschen gemeinsam.
K: Warte, Pupul. Die meisten Menschen haben darüber wohl noch nicht nachgedacht. Und wenn sie es getan haben, dann bezweifle ich, dass sie diese Tatsache erkennen konnten. Als Erstes möchte ich, dass das verstanden wird. Wenn ein paar von uns diese Wahrheit erkennen, dass wir die ganze Zeit dieses enorme menschliche Erbe mit uns herumtragen, dann können wir weitergehen. Wir sollten dies als Wahrheit wirklich erkennen und nicht nur als eine Behauptung oder als leere Worte sehen.
Achyut Patwardhan (AP): Würdest du nicht einräumen, Krishnaji, dass, obwohl sich das alles durch das Denken entwickelt und angesammelt hat …
K: Zeit und Denken.
AP: Ja, Zeit und Denken. Wenn ich sage, dass ich der Erbe des Vermächtnisses der Menschheit bin, dann ist das nicht das Resultat eines logischen Denkprozesses. Wenn ich sage, dass ich der Erbe all dessen bin, dann ist das nicht bloß eine Verbalisierung meines Denkens.
K: Siehst du als Mensch, als ein Mensch, der die Geschichte der Welt studiert hat, die Wahrheit, dass du das Resultat des gesamten Erbes der Menschheit bist? Siehst du, dass du dieses ungeheuer umfangreiche und komplexe Buch der menschlichen Geschichte bist? Und siehst du das nicht als etwas, worüber man streiten kann, sondern als Tatsache? Es ist entweder eine intellektuelle Vorstellung oder es ist so – in deinem Blut, in deinem Herzen, in deinen Gedanken, in deinem Leben.
AP: Wenn es in meinem Blut, in meinem ganzen Wesen ist, dann ist es kein logischer Denkprozess; es ist eine Ganzheit.
K: Lassen wir das Wort ›Ganzheit‹ aus dem Spiel. Es ist so. Wenn wenigstens wir drei diese Wahrheit erkennen, können wir von hier aus weitergehen.
PJ: Es ist genauso wahr wie die Tatsache, dass sich der menschliche Körper entwickelt hat. Ich will es so ausdrücken: Es ist ein allgemeines Phänomen. In diesem Sinne akzeptiere ich, dass ich das Erbe der Menschheit bin.
K: Richtig. Geh von da aus weiter. Ich trage die gesamte Geschichte der Menschheit in mir: ihre Leiden, ihre Ängste, ihre Einsamkeit, ihr Elend, ihr Glück und so weiter. Diese unüberschaubare Geschichte ist in mir. Um nun auf die Frage zurückzukommen, die wir gestern gestellt haben: Mit welchem Instrument lesen wir dieses Buch?
PJ: Bevor wir zu dem Instrument kommen, mit dem wir das Buch lesen, möchte ich gerne wissen, was wir eigentlich lesen.
K: Es verändert sich beim Lesen. Während ich es lese, bewegt es sich.
PJ: Ja. Beim Lesen entsteht die Zukunft; die Zukunft wird projiziert.
K: Einen Augenblick. Machen wir uns zuerst einmal klar, was wir mit dem Wort ›Zukunft‹ meinen. Die Zukunft ist die Vergangenheit, die sich in der Gegenwart selbst verändert und in der Zukunft weiterlebt. So wird die Vergangenheit zur Zukunft.
PJ: Der Gedanke, der in diesem Augenblick auftaucht, trägt den Keim der Zukunft in sich.
K: Er trägt den Keim der Zukunft in sich, wenn keine Veränderung eintritt.
PJ: Wir müssen uns also über die Qualität dieses ›was ist‹ im Klaren sein, über das wir schon seit Jahren sprechen.