Das Buch der Menschheit – Teil 2

K: Nein, das ist ein anderes Thema, Pupul. Lass uns hier anfangen: Ich bin die Menschheit in ihrer Gesamtheit. In mir lagert alles Streben der Menschheit. Ich will nicht das Wort ›Gesamtheit‹ benutzen –Ich bin mir dessen nicht bewusst. Ich habe keine Ahnung von seinem Inhalt, seiner Beschaffenheit, aber ich will das untersuchen. Ich will herausfinden, ob es möglich ist, das Wesen des Bewusstseins zu erforschen. Ich will nicht mein Bewusstsein erforschen, sondern das Bewusstsein der Menschheit. 

PJ: In dem Moment, in dem du sagst, ich studiere das Bewusstsein der Menschheit …

K: … das ja das Buch der Menschheit ist. ›Mein‹ Bewusstsein gibt es nicht. 

PJ: Ja, natürlich. In dem Moment, in dem du sagst, ich studiere das Bewusstsein der Menschheit und nicht mein eigenes Bewusstsein, verändert sich die Einstellung zu diesem Studieren radikal. 

K: Das stimmt. Wenn du in der Illusion lebst, dass dies dein Bewusstsein ist, das getrennt von jedem anderen Bewusstsein existiert, dann bewegen wir uns in zwei verschiedene Richtungen. Unglücklicherweise sind die meisten Menschen – selbst viele Psychologen – davon überzeugt, dass das Bewusstsein etwas Eigenständiges und Individuelles ist.

PJ: Das ist eine Falle.

K: Ja, das ist eine Falle.

PJ: Wir sagen, dass wir die gesamte Geschichte der Menschheit sind, aber wenn wir anfangen, das Bewusstsein zu erforschen …

K: Das die Geschichte der Menschheit ist …

PJ: Aber wenn wir die Geschichte der Menschheit objektiv betrachten …

K: Die das Bewusstsein der Menschheit ist. 

PJ: Aber wenn wir die Geschichte der Menschheit objektiv betrachteten, würden wir sie auf eine bestimmte Weise studieren. Wir würden in Enzyklopädien darüber nachlesen. Aber sobald wir erkennen, dass diese Geschichte in uns selbst entsteht, in unserem Bewusstsein, verändert sich unsere Haltung sofort radikal. 

K: Darauf wollte ich hinaus. Wenn man – nach logischer Untersuchung – tatsächlich erkennt, dass das eigene Bewusstsein universell ist, wenn man sehen kann, dass das im Einzelnen existierende Bewusstsein das Bewusstsein aller Menschen ist, dann verschiebt sich die ganze Perspektive der Wahrnehmung. Nicht wahr? Betrachte ich dieses Bewusstsein also als ›meines‹? Wir müssen uns über diesen Punkt im Klaren sein. Betrachte ich dieses Bewusstsein als meinen Privatbesitz? Indem ich herausfinde, dass alle Menschen einsam sind und leiden, mache ich eine ungeheuer wichtige Entdeckung. Das Bewusstsein der ganzen Menschheit zu entdecken ist eine ungeheuere Wahrnehmung. 

PJ: Ich würde sagen, dass sich das Bewusstsein der Menschheit auf meinem privaten Grund und Boden offenbart. 

K: Einen Augenblick. Du sagst, dass ich durch das Verstehen ›meines‹ Bewusstseins erkenne, dass es das Bewusstsein der Menschheit ist. Ich stimme dir zu, aber ich darf zu keiner Zeit darauf bestehen, dass es mein Bewusstsein ist.

PJ: Ich kann nicht sagen, dass es das, was mir in meinem Bewusstsein offenbart wird, nur in mir gibt. Es ist Teil des gesamten menschlichen Bewusstseins, aber weil es sich auf meinem Grund und Boden abspielt, habe ich eine ganz andere Beziehung dazu. 

K: Meinst du damit, dass ich beim Erforschen meines Bewusstseins entdecke, dass es nicht mein Privatbesitz ist? Dass das Erforschen dessen, was ich ›mein‹ Bewusstsein nannte und als getrennt von dem aller anderen betrachtete, zu der Entdeckung führt, dass dieses ›mein‹ Bewusstsein nichts anderes ist als das Bewusstsein der übrigen Menschheit? 

PJ: Aber ganz so ist es nicht. Wenn man beobachtet, was [in einem] hochkommt, ist kein Platz für diese andere Sichtweise, nämlich, dass es das Bewusstsein der ganzen Menschheit ist. 

K: Ich kann dir nicht ganz folgen.

PJ: Nehmen wir beispielsweise an, ich beobachte, wie das Gefühl der Einsamkeit oder Traurigkeit in mir hochkommt. Durch diese Beobachtung – nämlich, wie die Einsamkeit in mein Bewusstsein dringt – tritt nicht der Aspekt in den Vordergrund, dass es die Einsamkeit der ganzen Menschheit ist. An diesem Punkt ist es einfach nur Einsamkeit.

K: Aber eben durch das Erforschen meiner Einsamkeit oder meines Leids, die ich bis dahin peinlich genau auf meinen Vorgarten und meinen Privatbesitz begrenzt habe, entdecke ich diese Tatsache. Und mit der Entdeckung, dass alle Menschen einsam sind und leiden, habe ich etwas ungeheuer Wichtiges herausgefunden. Die Entdeckung, dass die ganze Menschheit leidet, ist eine gewaltige Erkenntnis.

PJ: Was führt zu dieser Erkenntnis? Ich möchte, dass wir das wie durch ein Mikroskop betrachten. Das Gefühl der Einsamkeit oder Traurigkeit steigt auf. Daraufhin beobachten wir das, was wir Leid nennen. Aber wodurch kommt dieser andere Gesichtspunkt ins Spiel, nämlich, dass ich nicht nur mein kleines belangloses Leid, sondern das Leid der ganzen Menschheit beobachte?

K: Nein. Ich beobachte es nicht. Schau, Pupulji, ich habe gesehen – wie wahrscheinlich jeder von uns –, dass Einsamkeit und Leid, wohin man auch schaut, Hand in Hand gehen. Das ist in Europa nicht anders als in Amerika oder Indien. Diesen Umstand teilen wir alle miteinander. Zu erkennen oder gegenüber sich selbst einzugestehen – wenn auch nur als logische Schlussfolgerung – dass wir alle dieses Los miteinander teilen, ist ein großartiger Anfang. Die Veränderung hat bereits stattgefunden, wie du siehst. 

PJ: Ja. Aber ich würde gerne noch einmal zurückgehen. Was muss man beobachten?

K: Ich beobachte das Leid. Einsamkeit und Leid sind Synonyme. 

PJ: Es sind emotionale Reaktionen auf eine Situation. Ich habe plötzlich das Gefühl zu schrumpfen …

K: Das Gefühl, einen großen Verlust zu erleiden.

PJ: Und ich schaue.

K: Nein, nein, nein; du schaust nicht. Machen wir uns das klar. Nehmen wir an, du hast einen wunderbaren Freund verloren oder deine Frau, die du sehr geliebt hast. Was ist da tatsächlich geschehen? Diese Person hat aufgehört zu existieren und damit endet auch deine Beziehung zu diesem Menschen. Und plötzlich erkennst du, wie unglaublich einsam du bist, denn das war die einzige Beziehung, die dir wirklich etwas bedeutete. Wenn das also plötzlich vorbei ist, hat man das Gefühl, einen großen Verlust erlitten zu haben.