Das Buch der Menschheit – Teil 5
K: Warte, warte, warte – die Empfindsamkeit der Sinne und das Denken, die beide ein und dasselbe sind.
AP: Wie das?
PJ: Genau darüber müssen wir sprechen. Die Empfindsamkeit der Sinne und das Denken – sind sie dasselbe?
K: Ich werde es euch zeigen. Ich habe gerade etwas begriffen, aber akzeptiert nicht einfach, was ich sage. (Lacht) Die Empfindsamkeit der Sinne. Unsere Sinne werden vom Denken gesteuert, nicht wahr?
PJ: Nein.
K: Einen Augenblick, nimm noch keinen Standpunkt ein. Warte, vielleicht lasse ich meine Aussage wieder fallen. Wenn du schon einen festen Standpunkt einnimmst, kommen wir nicht weiter.
PJ: Nein; ich nehme keinen festen Standpunkt ein.
K: Meine Sinne werden vom Denken beeinflusst und gesteuert. Nehmen wir den Geschmackssinn als Beispiel. Alles, was bitter schmeckt, mag ich nicht, und alles, was süß ist, mag ich. Da hat sich also das Denken eingeschaltet. Es fragt sich also, ob es eine Aktivität aller Sinne gibt, ohne dass sich das Denken einmischt. Schau dir die Frage zuerst einmal an.
Hast du schon einmal die gewaltige Bewegung des Meeres, das Heranrollen und Zurückweichen der Wellen und ihre enorme Kraft mit allen Sinnen wahrgenommen? Wenn du das tust, mischt sich das Denken nicht ein. Wenn sich das Denken in die Sinneswahrnehmung einmischt, dann immer, um sie zu begrenzen oder zu kontrollieren. Dabei bleibe ich.
PJ: Es ist so, wie du sagst. Ich begegne einer Herausforderung, und meine Sinne reagieren gemäß der Konditionierung meines Denkens. Aber es gibt eine Reaktion der Sinne …
K: Immer partiell – weil das Denken die Sinne ständig überwacht, ständig kontrolliert. Ich darf, ich darf nicht.
PJ: In einem bestimmten Moment kann sich Wasser in Wasser spiegeln.
K: Was heißt das?
PJ: Es kann wie Wasser sein, das sich in Wasser spiegelt. Es gibt einen Zustand, bei dem die Sinne nichts enthalten.
K: Richtig.
PJ: Ich will das noch weiter vorantreiben – wenn du mir nicht an die Gurgel springst.
K: (Lacht). Das werde ich nicht tun.
PJ: Ich meine, es gibt eine Verbindung zwischen den Sinnen – ich bin mir darüber aber nicht wirklich im Klaren. Wenn man an sein Gehirn denkt, dann stellt man es sich hier (berührt ihren Kopf) irgendwo im Kopf vor. Aber wenn die Sinne nicht vom Denken kontrolliert werden, frei vom Denken sind, verändert sich der Punkt, von dem aus sie tätig werden.
K: Das stimmt. Das sage ich doch. Es ist ziemlich einfach. Wenn die Sinne ohne Einschränkung nur beobachten, gibt es kein Zentrum. Wenn du ganz in der Betrachtung der Meereswellen oder der Himalayagipfel bei klarem Himmel aufgehst, dann existiert kein Zentrum, kein Gedanke. In dem Moment, da Gedanken auftauchen, ist wieder ein Zentrum da. Richtig?
PJ: Wir haben über das Denken gesprochen, und wir haben über die Sinne gesprochen. Gibt es noch einen dritten Vorgang?
K: Ja. Das ist der springende Punkt.
AP: Was ist das? Würdest du es bitte wiederholen?
PJ: Wir haben über das Denken gesprochen und wir haben über die Sinne gesprochen; und ich frage, ob es noch einen anderen Vorgang gibt.
K: Ah! Das ist schwierig. Gibt es ein Instrument – nein, kein Instrument, einen [inneren] Vorgang, ein Tun, einen Zustand, der nicht statisch, aber auch keine Regung des Denkens ist? Das ist doch deine Frage, nicht wahr?
PJ: Keine Regung des Denkens, keine Regung der Sinne …
K: Warte, lass uns diese beiden Dinge ganz genau anschauen – ›kein Denken‹ und ›keine Regung der Sinne‹. Wenn du das Meer mit allen Sinnen betrachtest, findet keine innere Regung durch die Sinne statt, nicht wahr? Natürlich. Die Sinne sind sich nicht bewusst, dass sie intensiver wahrnehmen. Ich frage mich, ob ich mich klar genug ausgedrückt habe. Alles, was vortrefflich ist, ist sich seiner Vortrefflichkeit nicht bewusst. Das Gute im höchsten Sinne des Wortes weiß nicht, dass es gut ist.
PJ: Du sprichst vom Wesenskern allen Denkens, dem Wesenskern aller Sinne. Dann ist dieser Wesenskern das Instrument.
K: Nein, lass es für den Moment gut sein. Wenn die Intensität der Sinneswahrnehmung erhöht ist, sind sich die Sinne dessen nicht bewusst. Erst wenn das Denken wieder ins Spiel kommt, bemerken wir, dass die Sinne ganz wach sind. Aber dann ist der Zustand der erhöhten Wahrnehmung bereits wieder vorbei.
Wenn nun das Denken sich seiner eigenen fürchterlichen Begrenzung bewusst ist, ist das der Durchbruch. Aber das zu erkennen heißt nicht bloß, es in Worte zu fassen. Es heißt, wirklich zu sehen, dass das Denken keinen Platz in dem Vorgang … Warte einen Moment, ich muss das sorgfältig prüfen. Pupul, was wollen wir herausfinden?
PJ: Wir lesen die Geschichte der Menschheit und fragen uns, was das für ein Instrument ist, mit dem wir forschen.
K: Das will ich dir sagen. Die Geschichte der Menschheit ist eine unaufhörliche Bewegung. Sie hat keinen Anfang und kein Ende. Wenn du erst einmal akzeptierst, dass sie kein Ende hat … Aber mein Gehirn, das begrenzt ist, sucht nach einem Ende. Richtig? Ich nähere mich diesem Buch also um herauszufinden, wie das alles endet.
PJ: Man sucht nach dem Ende.
K: Natürlich, natürlich. Aber zu erkennen, dass es kein Ende gibt – ist dir klar, was das bedeutet?
Zu erkennen, dass es kein Ende gibt, bedeutet, in einen Zustand zu gelangen, den wir Liebe nennen. Liebe hat kein Ende. Vielleicht liebe ich meine Frau – sie stirbt oder ich sterbe, aber das, was wir Liebe nennen, lebt weiter; es hat kein Ende. Aber weil ich mich mit meiner Frau identifiziert habe, sage ich, die Liebe ist zu Ende, oder ich fange an, eine andere Person zu lieben. Aber all das ist nichts weiter als Vergnügen oder Lust. Ich will da jetzt nicht weiter darauf eingehen.
Wie liest du also das Buch? Du liest es überhaupt nicht. Nicht wahr? Es gibt kein Buch, das zu lesen wäre. Und wenn du zu dieser wirklich tiefen Erkenntnis gelangst, dass dieses Buch keinen Anfang und kein Ende hat, erkennst du, dass du das Buch bist. Das heißt nicht, dass du ewig lebst, sondern dass das Leben in Form dieser Bewegung kein Ende hat. Es ist dann das Universum. Es ist dann der Kosmos. Es ist dann das Ganze.
Denkst du, dass ich Unsinn geredet habe? Wenn das jemand hören würde – natürlich ein ernsthafter Mensch – würde es in seinen Ohren verrückt klingen? Aber was ich sage, ist nicht verrückt. Es ist völlig logisch und klar. Man kann es an der Sorbonne, in Harvard oder in Delhi vortragen. Es ist hieb- und stichfest.
Rishi Valley, 19. Dezember 1982