Der Geist und das Herz – Teil 1

Pupul Jayakar (PJ): Bisher drehten sich unsere Gespräche um den Geist und seine Probleme, aber wir haben nie über die Regungen des Herzens gesprochen.

J. Krishnamurti (K): Ich bin froh, dass du dieses Thema ansprichst.

PJ: Sind die Regungen des Herzens etwas anderes als die Regungen des Geistes? Bilden sie eine gemeinsame Bewegung oder sind es zwei verschiedene? Und wenn es zwei verschiedene sind, durch welche Komponenten unterscheiden sie sich? Ich verwende die Worte ›Geist‹ und ›Herz‹, weil das die beiden Brennpunkte sind, in deren Umfeld sich anscheinend bestimmte Reaktionen auf Sinneswahrnehmungen konzentrieren. Sind diese beiden Bewegungen in Wirklichkeit ein und dieselbe?

K: Fangen wir an. Was meinst du mit ›Bewegung‹? 

PJ: Alle Gefühlsregungen, die wir Liebe, Zuneigung, Wohlwollen und Mitgefühl nennen, scheinen von einem zentralen Punkt auszugehen, den wir mit der Herzgegend gleichsetzen. Diese Gemütsbewegungen wirken auf das körperliche Herz und lassen es [zum Beispiel] schneller schlagen. 

K: Das ist die physiologische Aktivität der Gehirnzellen. 

P.Y. Deshpande (PYD): Oder sind es die Nerven, die auf das Herz einwirken?

K: Es ist eine Reaktion der Nerven, des Herzens, des Gehirns, des gesamten psychosomatischen Organismus. Sind nun die Regungen des Geistes etwas anderes als die Regungen jenes etwas, das wir im Allgemeinen als das Herz bezeichnen? Wir sprechen jetzt nicht vom physischen Herzen, sondern von den Gefühlen und Empfindungen: der Wut, der Eifersucht, den Schuldgefühlen – von all den Gefühlen, die das Herz pochen und schneller schlagen lassen. Sind die Regungen des Herzens und des Geistes verschiedene Dinge? Last uns darüber sprechen. 

PJ: Im Rahmen dessen, worüber wir in den vergangenen Tagen gesprochen haben, nämlich das Freimachen des Geistes bis auf die für das Überleben nötigen Vorgänge, blieben diese eigenartigen Regungen des Herzens der einzige Faktor, die den Menschen kennzeichnen. 

K: Ich glaube, dass diese Trennung künstlich ist. Damit sollten wir nicht beginnen.

PJ: Während der Diskussion mit dir kamen die Gehirnzellen zur Ruhe, eine große Klarheit stellte sich ein, aber eine Reaktion des Herzens war nicht zu spüren. Es gab keine Regung. 

K: Du trennst beides von einander: zum einen die Regungen des Geistes und zum anderen die Regungen des Herzens. Fragen wir also, ob sie wirklich voneinander getrennt sind. Und auch, falls sie nicht voneinander getrennt sind, welche Beschaffenheit der Geist hat, der Mitgefühl und Liebe ist und Einfühlungsvermögen besitzt, wenn er von Bewusstsein frei ist, in dem Sinne, wie wir das Wort Bewusstsein benutzt haben? Fangen wir mit der Frage an, ob die Regungen des Herzens etwas anderes sind. 

PJ: Was haben die Wut und das Gefühl der Zuneigung gemein?

K: Ich frage: Gibt es irgendeine eigenständige, getrennte innere Regung? 

PJ: Getrennt von was?

K: Gibt es irgendeine eigenständige innere Regung oder bilden alle inneren Regungen eine Einheit, so wie alle Energien eine Einheit bilden, auch wenn wir sie einteilen und zerstückeln? Man hat die inneren Regungen in verschiedene Kategorien eingeteilt, wie die Regungen des Herzens und die Regungen des Geistes. Und wir fragen: Gibt es Regungen des Herzens, die von den Regungen des Geistes unabhängig sind? Ich weiß nicht, ob ich das in Worte fassen kann: Sind der Geist, das Herz und das Gehirn eine Einheit? Und von dieser Einheit geht eine innere Regung aus, eine einheitliche Bewegung. Aber wir trennen die Gefühle und Empfindungen der Hingabe und Zärtlichkeit, des Mitgefühls und der Begeisterung von ihrem jeweiligen Gegenteil. 

PJ: Wie das Böse, die Grausamkeit, die Eitelkeit. Aber es gibt auch eine rein intellektuelle Aktivität, die weder zur einen noch zur anderen Kategorie gehört – die rein technische Aktivität.

K: Unterscheidet sich die rein technische Aktivität von der Aktivität des Geistes? 

PJ: Ich glaube, dass das Denken seine eigene Technologie hat. Es hat einen eigenen inneren Antrieb, seine eigene Existenzberechtigung, seine eigene Richtung, seine eigene Geschwindigkeit, seine eigenen Motive und seine eigene Energie.

Maurice Friedman (MF): Man kann das Denken nicht messen. Deshalb sollte man es nicht als Technologie bezeichnen. 

PYD: Gehirnströme werden bereits gemessen. Der Begriff Technologie beinhaltet Messbarkeit. 

K: Wir haben gerade gesagt, dass Mitgefühl, Liebe, Zärtlichkeit, Fürsorge, Rücksicht und Höflichkeit eine einzige Bewegung sind. Dann gibt es noch die Bewegung, die im Gegensatz dazu steht –  die Gewalttätigkeit und so weiter. Es gibt also die Regungen des Geistes, die Regungen der Zuneigung, der Liebe und des Mitgefühls und die Regung der Gewalttätigkeit. Somit gibt es jetzt drei innere Aktivitäten. Dann gibt es noch eine andere Aktivität, die darauf beharrt, dass dies sein muss und jenes nicht sein darf. Hat das Beharren darauf, dass dies sein muss und jenes nicht sein darf, irgendetwas mit den anderen geistigen Regungen zu tun?

PYD: Darüber hinaus gibt es noch die Aktivität des Koordinators. 

K: Also haben wir noch eine vierte Regung, nämlich die des Koordinators. Die vier geistigen Regungen sind: die Regung des Herzens, das Zuneigung empfindet; die Regungen der Gewalttätigkeit, Gefühllosigkeit, Niedergeschlagenheit, Primitivität und so weiter; dann die Aktivität des Intellekts und schließlich die Aktivität des Koordinators. Jede dieser geistigen Regungen hat ihre eigenen Unterteilungen. Und jede dieser einzelnen Regungen steht im Widerstreit mit ihrem Gegenteil. Es vervielfacht sich. Seht, wie komplex die Sache wird. In diesem psychosomatischen Organismus existieren viele Gegensätzlichkeiten, nicht nur intellektuelle und emotionale Regungen. Diese geistigen Regungen sind also vielfältig und gegeneinander gerichtet. Und dann gibt es noch den Koordinator, der die Dinge zu ordnen versucht, damit er etwas tun kann.