Wachsein – Teil 2

Das Verhalten des Ichs ist entsetzlich eintönig. Das Ich ist ein lästiger Geselle, dessen unausstehliches, sinn- und witzloses Gebaren jedermann auf die Nerven geht. Seine gegensätzlichen und einander widerstreitenden Wünsche und Begierden, seine Hoffnungen und Enttäuschungen, seine Wirklichkeiten und Illusionen halten es wie in einem Zauberschloss gefangen und sind dabei doch allesamt sinnlos und leer. Seine eigene hektische Betriebsamkeit macht es müde und verdrossen. Das Ich klettert und fällt, strebt und versagt, gewinnt und verliert in nie abreißender Folge und kennt dabei keinen anderen Wunsch, als diesem ermüdenden Kreislauf des Unsinns zu entrinnen. Scheinbar gelingt ihm das auch durch äußerliche Geschäftigkeit oder angenehme Illusionen, durch Alkohol, Ausleben des Geschlechtstriebs, Radio, Bücher, Anhäufung von Wissen, Vergnügungen und so weiter. Seine Fähigkeit, sich Illusionen zu machen, ist geradezu staunenswert. Diese Illusionen stammen samt und sonders aus der Werkstatt des eigenen Denkens. Was dabei herauskommt, ist das Ideal, die götzendienerische Verehrung von Meistern und Heilanden, die Vorstellung von der Zukunft als Mittel zur Selbsterhöhung und so weiter.

Um seiner eigenen Öde zu entkommen, ist das Ich ständig auf der Jagd nach Eindrücken und erregenden Reizen, die es der bewussten Selbstverleugnung entheben sollen, weil es mit ihrer Hilfe wenigstens den Ersatz dafür, das Selbstvergessen, zu finden hofft. Es hat damit oft Erfolg, aber mit jedem Erfolg wächst seine Müdigkeit und sein Überdruss. Wenn der eine Reiz seine Wirkung verliert, muss der nächste her, aber jeder schafft wieder neuen Konflikt und neues Leid.

Selbstvergessenheit wird im inneren wie im äußeren Leben angestrebt. Die einen wenden sich der Religion zu, die anderen verlieren sich in ihrer Arbeit oder ihren Bestrebungen. Aber das Ich lässt sich nicht so leicht vergessen, innerer oder äußerer Lärm mag es unterdrücken, aber dann taucht es sehr bald in anderer Gestalt oder Verkleidung wieder auf, da ja alles Unterdrückte nach Erlösung drängt. Selbstvergessenheit durch Alkohol oder Ausleben des Geschlechtstriebs, durch Anbetung oder Wissen macht abhängig, und alles, von dem man abhängt, schafft ein Problem. Wenn du den Alkohol oder einen Meister brauchst, um dich zu vergessen, Erlösung und Glück zu finden, dann werden diese zu deinem Problem. Abhängigkeit erzeugt Besitzsucht, Neid und Angst, und schon wird die Angst und ihre Überwindung zu deinem Problem.

In unserem Streben nach Glück schaffen wir uns also immer neue Probleme, in die wir uns immer mehr verstricken. In der Selbstvergessenheit geschlechtlicher Befriedigung finden wir eine Art Glück, darum ist sie uns ein willkommenes Mittel, das zu erreichen, wonach uns verlangt. Glück durch etwas führt unweigerlich zum Konflikt, weil dann das Mittel zum Glück viel wichtiger und bedeutsamer ist als das Glück selbst. Wenn mich die Schönheit eines Stuhles glücklich macht, dann bedeutet dieser Stuhl für mich alles, und ich muss ihn deshalb gegen den Zugriff anderer schützen. Über diesem Kampf gerät das ganze Glück in Vergessenheit, das ich anfangs beim Anblick des Stuhles empfand, es ist auf einmal weg, verschwunden, und übrig sind nur noch ich und der Stuhl. Der Stuhl hat an sich nur wenig Wert, nur ich selbst habe ihn gewaltig überschätzt, weil er mir als Mittel zu meinem Glück erschien. Auf diese Art wird aus dem Mittel zum Glück ein Surrogat für das Glück selbst.

Wenn mir gar ein lebendiger Mensch als Mittel zu meinem Glück dienen soll, dann entstehen noch weit schlimmere Konflikte und Wirrungen, Gegensätze und Leiden. Wenn Ihnen das ›Du‹ nur zu etwas dienen soll, ist dann Ihre Beziehung zu ihm etwa tiefer als das höchst oberflächliche Verhältnis zwischen dem Handwerker und seinem Werkzeug? Wenn Sie sagen: »Ich brauche dich zu meinem Glück« – haben Sie dann überhaupt eine Beziehung zu diesem Du? Zum Du in Beziehung stehen, heißt in verschiedenen Wesensschichten mit ihm eins sein, kann man aber von Einssein reden, wenn das Du nur als Mittel, als Werkzeug zu meinem Glück dienen soll? Wenn ich einen anderen Menschen auf diese Art benutze, geht es mir dann nicht im Grunde nur um eine Selbstabsonderung, in der ich mein Glück zu finden hoffe? Diese Selbstabsonderung nenne ich Beziehung, obwohl ihr das wichtigste Merkmal jeder Beziehung, das Einssein mit dem Du fehlt.

Einssein kann es nur geben, wo keine Angst ist, ich bin aber solange von nagender Angst und Schmerzen geplagt, wie ich den anderen brauche und daher von ihm abhängig bin. Da es in der Absonderung überhaupt kein Lieben gibt, münden alle Bestrebungen des Ichs, für sich und abseits zu bleiben, notwendig in Elend und seelische Verkümmerung, Um dieser inneren Armut zu entfliehen, suchen wir Erfüllung in Ideen, Dingen und im Umgang mit Menschen. Damit aber landen wir da, wo wir begonnen haben, bei der Suche nach Surrogaten.