Klarheit – Teil 2

Vielleicht haben Sie Ihr Problem noch nie in dieser Weise betrachtet, wahrscheinlich haben Sie nur angestrengt nachgedacht oder schlau berechnet, eins gegen das andere abgewogen, Pläne gefasst und wieder verworfen, bis Sie zuletzt völlig durcheinander waren und überhaupt nicht mehr wussten, was Sie tun sollten. Welche Entscheidung Sie in diesem Zustand innerer Unklarheit und Verwirrung auch treffen, sie kann immer nur weitere Unklarheit und Verwirrung zur Folge haben. Versuchen Sie, das einmal ganz einfach und unmittelbar zu sehen. Wenn es Ihnen gelingt, dann werden Sie imstande sein, das, was ist, unentstellt zu erkennen.

Das Unbedingte handelt aus sich selbst. Wenn also über das, was ist, Klarheit herrscht, dann werden Sie sehen, dass Ihnen keine Wahl mehr bleibt, weil Sie wissen, wie Sie handeln müssen. Es wird also nicht mehr die Frage sein, was Sie tun sollen, denn diese Frage erhebt sich nur, wenn die Unsicherheit einer Wahl gegeben ist. Handeln aus der Fülle bedarf keiner Wahl, alles vom Verstand gewählte Handeln ist ein Handeln aus der Verwirrung.

»Ich beginne zu begreifen, was Sie sagen wollen: ich muss mir innere Klarheit verschaffen und darf mich dabei weder von der Sorge um meinen Ruf noch von selbstsüchtiger Berechnung oder materiellem Denken leiten lassen. Im Augenblick sehe ich wohl klar, aber ich werde es wohl schwer haben, mir diese Klarheit zu erhalten, meinen Sie nicht auch?«

Nein, keineswegs. Erhalten heißt Widerstreben. Es geht für Sie nicht darum, sich die Klarheit zu erhalten und der Verwirrung zu widerstreben, Sie erleben vielmehr, was Verwirrung ist, und kommen zu der Einsicht, dass alles aus der Verwirrung hervorgegangene Handeln nur noch größere Verwirrung hervorbringt. Wenn Sie das alles erleben, nicht weil es Ihnen ein anderer gesagt hat, sondern weil Sie es selbst unmittelbar einsehen, dann sind Sie sich im klaren über das, was ist. Diese Klarheit brauchen Sie sich nicht zu erhalten, sie ist ganz einfach da.

»Jetzt weiß ich genau, was Sie wollen. Ja, ich habe jetzt Klarheit, das wäre also entschieden. Wie steht es aber nun um die Liebe? Mir scheint, wir wüssten nicht recht, was Liebe bedeutet. Ich wenigstens glaubte zu lieben und sehe jetzt, dass es nicht stimmt.«

Nach dem, was Sie mir erzählten, haben Sie doch geheiratet, weil Sie sich vor dem Alleinsein fürchteten und weil Sie ein physisches Bedürfnis danach empfanden. Jetzt wissen Sie, dass das alles mit Liebe nichts zu tun hat. Vielleicht nannten Sie Ihre Empfindungen damals Liebe, um sie gewissermaßen gesellschaftsfähig zu machen, aber in Wirklichkeit verbarg sich unter dem Deckmantel dieser sogenannten ›Liebe‹ ein ganz nüchternes Übereinkommen.

Für die meisten Menschen ist dieser ganze vernebelnde Qualm das, was sie unter Liebe verstehen: Angst vor der Unsicherheit des Daseins, vor der Einsamkeit, vor einer sinn- und zwecklosen Existenz, vor einem unversorgten Alter und so weiter. Aber alle diese Vorstellungen stammen doch nur aus dem Denken und haben darum offenbar mit Liebe nicht das geringste gemein. Alles Denken ist auf Wiederholung aus, und Wiederholung macht jede Beziehung schal. Denken ist ein verschwenderischer Vorgang, es kann sich nicht erneuern, es spult sich nur immerzu ab wie ein endloser Faden. Was aber nur Dauer besitzt, kann nie frisch und neu geboren sein. Denken reizt die Sinne, Gedanken sind sinnlich, sie sind der Ursprung aller sexuellen Nöte. Das Denken kann nie ein Ende finden, um einmal neu und schöpferisch zu sein, es kann nie etwas anderes werden als es ist, nämlich Reiz der Sinne. Denken ist immer das Abgestandene, das Vergangene, das Alte, Denken kann niemals neu sein. Wie Sie sehen, hat Liebe mit Denken nichts gemein. Liebe ist da, wo kein Denker ist. Der Denker ist nichts anderes als der Gedanke, Gedanke und Denker sind eins, der Denker ist der Gedanke.

Liebe ist kein Reiz für die Sinne, sie ist eine Flamme ohne Rauch. Sie werden der Liebe teilhaftig, wenn Sie als denkendes Subjekt nicht mehr sind. Aber Sie können sich als denkendes Subjekt nicht für die Liebe opfern. Da nämlich die Liebe nichts mit dem Denken gemein hat, lässt sie sich auch nicht durch absichtsvolles, zweckbestimmtes Handeln erzwingen. Die Erziehung, der Wille zur Liebe sind Früchte des Nachdenkens über die Liebe, und alles Nachdenken über die Liebe ist nur Reiz für die Sinne. Der Verstand kann nicht über die Liebe nachdenken, weil sie ihm unerreichbar ist. Der Verstand besitzt Dauer, die Liebe ist unerschöpflich. Das Unerschöpfliche ist immer neu, was Dauer besitzt, lebt in ständiger Furcht vor dem Ende. Nur was ein Ende hat, weiß um die ewige Neugeburt der Liebe.