Schönheit – Teil 2

»Was ist also Schönheit?«

Erwarten Sie eine Definition, eine Formel oder wollen wir die Sache einmal gemeinsam untersuchen?

»Braucht man nicht ein Instrument, wenn man etwas untersuchen will? Wie könnte man ohne Wissen, ohne Erklärungen und Bestimmungen untersuchen? Ehe wir aufbrechen, müssen wir doch wissen, wohin die Reise geht.«

Und wenn ich behaupte, dass uns Wissen am Forschen hindert? Wie könnten Sie noch etwas zu fragen haben, wenn Sie schon alle Antworten kennen? Das Wort ›Wissen‹ bedeutet einen Zustand, in dem alles Fragen und Forschen aufgehört hat. Wissen heißt also geradezu: nicht fragen, nicht forschen, folglich geht es Ihnen doch   nur um eine Begriffsbestimmung, eine Formel. Fragen wir also: Gibt es ein Maß, an dem man die Schönheit messen könnte? Bedeutet Schönheit die Annäherung an eine bekannte oder imaginäre Norm oder ist sie etwas gestaltlos Abstraktes? Ist Schönheit nicht nur die Hälfte eines Gegensatzpaares – kann diese Hälfte für das Ganze stehen? Gibt es äußere Schönheit ohne innere Freiheit? Ist Schönheit Schmuck der Zierde? Ist das Entfalten äußerer Schönheit ein Zeichen von Empfindsamkeit? Was suchen Sie? Das Zusammenspiel äußerer und innerer Schönheit? Gibt es überhaupt äußere Schönheit, wenn die innere fehlt? Welche von den beiden ist Ihnen wichtiger?

»Mir sind beide gleich wichtig. Ohne die vollkommene Form gibt es kein vollkommenes Sein. Schönheit ist der harmonische Zusammenklang von innen und außen.«

Damit hätten Sie eine Art Rezept für das Schönwerden entdeckt. Aber das Rezept ist nicht Schönheit, sondern nur ein aus einer Reihe von Worten gebildeter Satz. Und der Vorgang des Schönwerdens ist etwas ganz anderes als schön sein. Was suchen Sie also genau?

»Die Schönheit von Hülle und Inhalt, von Körper und Seele. Der Vollkommenheit der Blume ziemt ein untadeliges Gefäß.«

Gibt es innere und damit vielleicht auch äußere Harmonie ohne Empfindsamkeit? Ist Empfindsamkeit nicht die erste und wesentlichste Voraussetzung zur Wahrnehmung sowohl des Hässlichen wie des Schönen? Ist Schönheit Abkehr vom Hässlichen und Widerstand dagegen?

»Natürlich ist sie das.«

Ist etwa Tugend Abkehr und Widerstand? Wie könnte es Empfindsamkeit geben, wo man widerstrebt? Kann man überhaupt empfindsam sein, ohne volle Freiheit zu genießen? Kann der Gefangene seines eigenen Ichs empfindsam sein, kann es der Ehrgeizige, und wenn er es könnte, hätte er dann ein Organ für die Schönheit? Empfindsamkeit oder Verwundbarkeit durch alles, was ist, ist wesentlich. Wir möchten so gerne eins mit dem werden, was wir das Schöne nennen, und das vermeiden, was wir als hässlich bezeichnen. Wir verlangen danach, ganz in unserem wunderschönen Garten aufzugehen und vor dem übel riechenden Dorf die Augen zu schließen. Wir möchten widerstreben und zugleich empfangen. Ist nicht alles Parteinehmen Widerstand?

Empfindsam sein heißt aber, des Dorfes wie des Gartens ohne Vergleich und ohne Widerstreben innezuwerden. Sie aber möchten nur für die Schönheit, nur für die Tugend empfänglich sein, dem Übel, dem Hässlichen aber widerstreben. Empfindsamkeit, Verwundbarkeit ist aber unteilbar und lässt sich nicht auf das Angenehme, das Gefällige beschränken.

»Und doch suche ich die Schönheit, die Empfindsamkeit.«

Wissen Sie das genau? Wenn es so ist, dann müssen Sie aber aufhören, sich um die Schönheit Gedanken zu machen. Die ständige Betrachtung und Verehrung des Schönen ist nämlich nur eine Flucht vor dem, was ist, vor Ihnen selbst. Wie könnten Sie aber empfindsam sein, wenn Sie nicht in erster Linie Klarheit über sich selbst und über das, was ist, besitzen? Die Ehrgeizigen, die Gewandten, die unermüdlichen Spürhunde des Schönen, beten nämlich nur ihre selbstgeschaffenen Götzen an. Sie sind völlig ichbefangen, sie haben eine hohe Mauer um sich herum gebaut, da aber nichts in der Absonderung leben kann, ist Elend die unvermeidliche Folge. Die Jagd nach Schönheit und das unaufhörliche Gerede über Kunst sind legitime und hochangesehene Mittel, dem Leben, das heißt dem eigenen Ich, zu entfliehen.

»Aber Musik gehört doch nicht dazu? Oder dient sie etwa auch der Flucht vor uns selbst?«

Ja, sobald sie uns die Einsicht in das eigene Wesen ersetzen soll. Ohne diese Einsicht führt alles Tun nur zu Verwirrung und Leid. Wir müssen innewerden, wie es um unser Denken und Handeln bestellt ist, nur dann werden wir jener Freiheit teilhaftig, die eine Voraussetzung feinen und sicheren Empfindens ist.