Zeit – Teil 2
»Gibt es wirklich keine andere Zeit? Was ist über die Erkenntnis der Wissenschaft zum Raum-Zeit-Problem zu sagen?«
Man spricht von siderischer und von psychologischer Zeit. Die siderische Zeit ist notwendig und gegeben, um die sogenannte psychologische Zeit ist es jedoch ganz anders bestellt. Es heißt, der Kausalnexus von Ursache und Wirkung vollziehe sich in der Zeit, und zwar sowohl im physischen wie im psychischen Bereich. Man behauptet weiter, die Spanne zwischen Ursache und Wirkung sei die Zeit, aber gibt es da überhaupt eine Spanne? Ursache und Wirkung einer Krankheit mögen durch eine siderische Zeitspanne voneinander getrennt sein, aber gibt es denn auch eine Spanne zwischen psychischen Ursachen und Wirkungen? Ist Ursache-Wirkung nicht ein zusammenhängender Vorgang? Nein, es gibt dazwischen keine Spanne. Das Heute ist die Wirkung des Gestern und die Ursache des Morgen, alles ist in beständigem ununterbrochenem Fluss. Es gibt keine deutliche Trennlinie zwischen Ursache und Wirkung, wir vollziehen diese Trennung nur innerlich, um zu ›werden‹, um zu vollbringen. Ich bin dies und werde jenes. Um jenes zu werden, brauche ich Zeit – siderische Zeit für psychische Zwecke. ›Ich bin unwissend, aber ich werde weise‹. Unwissenheit, die weise ›wird‹, ist nichts als fortschreitende Unwissenheit, denn Unwissenheit kann sich ebenso wenig in Weisheit verwandeln wie Gier in Nichtgier. Alles ›Werden‹ ist nichts als Unwissenheit.
Stammt Denken nicht aus der Zeit? Wissen ist Fortwirkung der Zeit. Zeit ist Weiterschreiten. Erfahrung ist Wissen, und Zeit ist das Fortwirken der Erfahrung als Erinnerung. Zeit, selbst als Fortwirkung gedacht, ist eine Abstraktion, Spekulation ist aber Unwissenheit. Erfahrung ist Erinnerung, ist Denken. Das Denken ist die Maschine der Zeit. Denken ist Vergangenheit, alles Denken stammt aus dem Gewesenen, und das Gewesene wirkt im Wissen fort. So kommt alles Wissen aus der Vergangenheit, Wissen steht daher nie außerhalb der Zeit, es ist immer in der Zeit und an sie gebunden. Das Fortwirken der Erinnerung, das Wissen, ist unser Bewusstsein. Erfahrung ist immer in der Vergangenheit, sie ist die Vergangenheit. Diese Vergangenheit verbindet sich mit der Gegenwart und bewegt sich weiter in die Zukunft. Vielleicht erfährt sie dabei eine Abwandlung, aber sie bleibt dennoch, was sie ist, Vergangenheit. Dieser ganze Vorgang ist das Denken. Dieses Denken kann in keinem anderen Bereich tätig sein, als in dem der Zeit, es ist an die Zeit gebunden. Das Denken mag über das Zeitlose spekulieren, aber diese Spekulation fördert nur seine eigenen Entwürfe und Vorstellungen zutage. Alles Spekulieren ist Unwissenheit.
»Warum sprechen Sie denn überhaupt vom Zeitlosen? Kann man etwas von ihm wissen? Kann es als zeitlos erkannt werden?«
Erkennen setzt den Erfahrenden voraus, und der Erfahrende ist stets an die Zeit gebunden. Um etwas zu erkennen, muss es der Erfahrende bereits im Schatz seiner Erfahrung besitzen, und wenn das der Fall ist, dann gehört es zum Bekannten. Das Zeitlose ist aber sicherlich nicht bekannt, alles Bekannte hängt ja im Netz der Zeit. Das Denken kann also nicht um das Zeitlose wissen, darum wird das Zeitlose auch niemals eine neue Errungenschaft, ein neuer Zuwachs an Erfahrung sein. Wir können ihm nicht bewusst näher kommen.
»Welchen Wert hat es dann?«
Überhaupt keinen. Es ist nicht feil, es lässt sich keinem Zweck dienstbar machen. Sein Wert ist unbekannt.
»Welche Rolle spielt es im Leben?«
Wenn Leben Denken ist, überhaupt keine. Wir aber erkennen in ihm einen Quell des Friedens und des Glücks, einen Schutzschild gegen alles Leid, ein einigendes Band für die Menschheit, und darum möchten wir seiner teilhaftig werden. Das Zeitlose lässt sich keinem Zweck dienstbar machen. Jeder Zweck bedarf ja des Mittels, und damit wären wir wieder beim Denken und seinen Gesetzen angelangt. Das Denken kann dem Zeitlosen nicht mit Worten beikommen oder es seinen Zwecken entsprechend gestalten, das Zeitlose lässt sich nicht benützen. Und doch hat unser Leben nur einen Sinn, wenn das Zeitlose in ihm gegenwärtig ist, sonst wäre dieses Leben nur Kummer, Zwiespalt und Schmerz. Kein menschliches Problem lässt sich durch Denken lösen, da ja das Denken selbst das Problem ist. Das Ende des Wissens ist der Beginn der Weisheit. Weisheit kommt nicht aus der Zeit, sie ist nicht fortwirkende Erfahrung, das ist Wissen. Leben in der Zeit ist Wirrsal und Elend, wenn aber das, was ist, das Zeitlose, in unser Dasein tritt, dann sind wir der Glückseligkeit teilhaftig.