Richtige Erziehung – Teil 1

Ein Unwissender ist nicht der, der akademisch ungebildet ist, sondern der, der sich selbst nicht kennt. Und der akademisch Gebildete ist dumm, wenn er sich auf Bücher, Wissen und Autoritäten verlässt, um Verstehen und Erkenntnisse zu erlangen. Verstehen kommt nur durch Selbsterkenntnis, das heißt, durch Bewusstwerden des gesamten eigenen psychischen Prozesses. Somit bedeutet Erziehung und Bildung im wahrsten Sinne, sich selbst zu verstehen, denn es ist so, dass in jedem von uns das ganze Dasein versammelt ist.

Was wir heute Erziehung nennen, ist nichts anderes als das Sammeln von Auskunft und Wissen aus Büchern, was jeder tun kann, der lesen gelernt hat. Solche Erziehung bietet uns in fein angelegter Weise eine Flucht vor uns selber, und schafft, wie alle Ausflüchte, unvermeidlich wachsendes Leid. Konflikt und Verwirrung sind das Ergebnis unserer falschen Beziehungen zu Menschen, Dingen und Ideen, und ehe wir diese Beziehungen nicht verstehen und ändern, kann uns das bloße Ansammeln von Tatsachen und das Erwerben verschiedener Fertigkeiten nur zu abgründigem Chaos und zur Zerstörung führen.

Wie die Gesellschaft heute angelegt ist, schicken wir unsere Kinder in die Schule, damit sie eine Technik erlernen, mit deren Hilfe sie später ihren Lebensunterhalt verdienen sollen. Wir wollen unser Kind in erster Linie zu einem Spezialisten ausbilden lassen, in der Hoffnung, ihm dadurch eine feste wirtschaftliche Stellung zu sichern. Kann aber das Ausüben einer Technik den Menschen befähigen, sich selber zu verstehen? Zwar ist es ganz offenbar nötig, Lesen und Schreiben zu können, sowie Maschinenbau oder irgendeinen anderen Beruf zu erlernen; wird aber technisches Wissen uns die Fähigkeit verleihen, das Leben zu verstehen? Sicherlich kommt Technik an zweiter Stelle; wird indessen die Technik zum einzigen, wonach wir streben, so verleugnen wir augenscheinlich etwas, das bei weitem den größeren Teil unseres Lebens ausmacht. Leben ist Schmerz und Freude, Schönheit, Widerwärtigkeit und Liebe, und wenn wir es als eine Gesamtheit auf allen seinen Ebenen verstehen können, wird dies Verständnis seine eigene Technik schaffen. Doch das Gegenteil ist nicht zutreffend: Technik kann niemals schöpferisches Verständnis herbeiführen.

Die heutige Erziehung ist ein vollkommener Fehlschlag, weil sie die Technik überbetont. Dieses Überbetonen der Technik zerstört den Menschen. Das Ausbilden von Fähigkeit und Tüchtigkeit ohne Verständnis für das Leben, ohne eine umfassende Vorstellung der Wege unseres Denkens und Fühlens, wird uns nur in zunehmendem Maße grausam machen, und das bedeutet Kriege und die Gefährdung unserer physischen Sicherheit. Die ausschließliche Ausbildung in Technik hat Wissenschaftler, Mathematiker, Brückenbauer und Eroberer des Weltraums hervorgebracht; verstehen sie indessen den Gesamtvorgang unseres Lebens? Kann irgendein Spezialist das Leben in seiner Gesamtheit erfahren? Erst dann, wenn er aufhört, ein Spezialist zu sein.

Technischer Fortschritt kann zwar für manche Menschen eine bestimmte Art Probleme auf einer Ebene lösen, aber er führt wiederum andere, weitere und tiefere Probleme ein. Lebt man nur auf einer Ebene und lässt den Gesamtvorgang des Lebens außer acht, so fordert man damit Elend und Zerstörung heraus. Es ist das allernötigste und dringendste Problem für jeden Menschen, eine einheitliche Lebensauffassung zu erlangen, die ihn instand setzt, seinen stets wachsenden Verwicklungen zu begegnen. Wie notwendig technisches Wissen auch ist, so kann es doch auf keine Weise unsere inneren psychologischen Bedrückungen und Konflikte lösen; und gerade weil wir technisches Wissen ohne Verständnis für unseren gesamten Lebensvorgang erworben haben, ist Technik zum Mittel der Selbstzerstörung geworden. Der Mensch, der ein Atom spalten kann, aber keine Liebe im Herzen trägt, wird zum Ungeheuer.

Wir wählen unseren Beruf entsprechend unseren Fähigkeiten; kann aber das Betreiben unseres Berufes uns den Weg aus Konflikt und Verwirrung zeigen? Ein gewisses Maß technischer Schulung erscheint notwendig; sind wir aber Ingenieure, Ärzte oder Buchhalter geworden – was dann? Ist das Ausüben eines Berufes die Erfüllung unseres Lebens? Offensichtlich ja, bei den meisten Menschen. Unsere verschiedenen Berufe halten uns den größten Teil unseres Daseins in Atem; doch gerade das, was wir hervorbringen, und wovon wir so entzückt sind, schafft Zerstörung und Leid. Unsere Einstellung und unser Wertmesser macht aus Dingen und Betätigungen Werkzeuge voller Neid, Hass und Bitterkeit.

Wenn wir uns selber nicht verstehen, führt bloße Geschäftigkeit zu innerer Gehemmtheit mit ihren unweigerlichen Ausflüchten in alle Arten verderblicher Tätigkeiten. Technik ohne Verständnis führt zu Feindschaft und Grausamkeit, was wir mit angenehm klingenden Phrasen zu überdecken suchen. Welchen Wert hat es, den Nachdruck auf Technik zu legen und ein tüchtiges Wesen zu entwickeln, wenn das Ergebnis gegenseitige Zerstörung ist? Unser technischer Fortschritt ist phantastisch, doch hat er nur die Macht gegenseitiger Vernichtung vergrößert, und Hungersnot wie Elend bleiben weiter in allen Ländern bestehen. Wir sind keine friedvollen und glücklichen Menschen.

Wenn Tätigkeit höchste Bedeutsamkeit erlangt, wird unser Leben düster und langweilig, es wird zu einer mechanischen und unfruchtbaren Routine, aus der wir in alle möglichen Arten der Zerstreuung entfliehen. Das Sammeln von Tatsachen und das Entwickeln von Fähigkeiten – was wir Erziehung nennen – hat uns der Fülle eines einheitlichen Lebens und Handelns beraubt. Nur weil wir den Gesamtverlauf des Lebens nicht begreifen, klammern wir uns an Beruf und Tüchtigkeit, die auf diese Weise überwältigende Bedeutung bekommen. Das ganze lässt sich jedoch nie durch einen Teil erfassen; es kann nur durch Handlung und Erfahrung verstanden werden.