Kunst, Schönheit und Schöpfung – Teil 1

Die meisten Menschen versuchen unaufhörlich, sich selbst zu entfliehen; und da die Kunst ein ehrenwertes und leichtes Mittel dazu bietet, spielt sie im Leben vieler eine bedeutende Rolle. In ihrem Verlangen nach Selbstvergessen wenden sich manche der Kunst zu, andere dem Trinken, während wieder andere mystischen und phantastischen religiösen Lehren folgen. Was wir bewusst oder unbewusst zur Flucht vor uns selber benutzen, dem verhaften wir uns. Die Abhängigkeit von einem Menschen oder einem Gedicht oder sonst etwas als Mittel der Befreiung von unseren Sorgen und Ängsten schafft – obwohl sie für den Augenblick bereichern mag – nur mehr Konflikt und Widerstreit in unserem Leben. Wo Konflikt herrscht, kann kein schöpferischer Zustand bestehen; und die rechte Erziehung sollte daher dem Menschen helfen, seinen Problemen entgegenzutreten, anstatt die Wege der Ausflucht zu verherrlichen; sie sollte ihm helfen, seine Konflikte zu begreifen und auszumerzen, denn nur dann kann der schöpferische Zustand ins Dasein treten.

Kunst, vom Leben getrennt, hat keine große Bedeutung. Ist die Kunst von unserem täglichen Leben abgesondert, besteht eine Kluft zwischen unseren Instinkten und unseren Bemühungen auf der Leinwand, in Marmor oder in Worten, dann wird die Kunst nur zum Ausdruck unseres oberflächlichen Verlangens, der Wirklichkeit dessen, was ist, zu entfliehen. Diese Kluft zu überbrücken, ist sehr mühsam, besonders für diejenigen, die begabt und technisch bewandert sind; doch erst wenn die Kluft überbrückt ist, wird unser Leben einheitlich und die Kunst zum harmonischen Ausdruck unserer selbst.

Der Verstand hat die Kraft, Illusionen zu schaffen; sucht man aber nach einer Eingebung, ohne die Eigenheiten des Verstandes zu begreifen, so fordert man Selbsttäuschung heraus. Die Eingebung kommt, wenn wir für sie offen sind, nicht aber, wenn wir um sie werben. Der Versuch, die Eingebung durch irgendeine Form des Ansporns zu gewinnen, führt zu allen möglichen Täuschungen.

Wenn man sich über den Sinn des Daseins nicht klar ist, verleiht eine Fähigkeit oder Gabe den Begierden des Ich Nachdruck und Bedeutung. Dann bekommt der Mensch die Neigung zur Selbstsucht und Absonderung; er fühlt sich als ein abseits stehendes und überlegenes Wesen, und all dies erzeugt viele Übel und endlosen Kampf und Schmerz. Das Ich ist aus vielen Wesenheiten zusammengesetzt, jede im Widerstreit mit den andern. Es ist ein Schlachtfeld einander widersprechender Wünsche, ein Mittelpunkt beständigen Ringens zwischen dem ›Mein‹ und dem ›Nicht-Mein‹; und solange wir dem ›Ich‹, dem ›Mir‹ und ›Mein‹ Bedeutung beimessen, werden die Konflikte in unserm Innern und in der Welt nur zunehmen. Ein wahrer Künstler ist jenseits der Eitelkeit des Ich mit ihrem ehrgeizigen Streben. Hat er die Gabe, sich vorzüglich auszudrücken und ist trotzdem in weltlichen Dingen gefangen, so schafft er sich ein Leben voller Widerstreit und Kampf. Nimmt man sich Lob und Schmeichelei zu Herzen, dann bläht man das Ego auf und zerstört die Empfänglichkeit; und auch die Anbetung von Erfolg auf jedem Gebiet ist offensichtlich der Einsicht schädlich.

Jede Neigung oder Gabe, die zur Absonderung führt, jede Form des Selbstidentifizierens, wie anregend sie auch sein mag, verzerrt die Empfindsamkeit unserer Ausdrucksweise und erzeugt Unempfindlichkeit. Empfindsamkeit wird abgestumpft, wenn die Gabe persönlich wird, wenn dem ›Ich‹ und ›Mein‹Bedeutung beigelegt wird – ich male, ich schreibe, ich erfinde. Nur wenn wir jeder einzelnen Bewegung unseres Denkens und Fühlens in unseren Beziehungen zu Menschen, Dingen und der Natur bewusst werden, ist unser Sinn offen und biegsam, und nicht an Forderungen und Bestrebungen des Selbstschutzes gebunden; nur dann wird unsere Empfindsamkeit für das Hässliche und das Schöne vom Ich nicht behindert.

Die Empfindsamkeit für Schön und Hässlich lässt sich nicht dadurch herbeiführen, dass man sich an etwas haftet; sie entsteht mit der Liebe, wenn keine selbstgeschaffenen Konflikte mehr bestehen. Sind wir innerlich arm, so ergeben wir uns jeder Form äußerlicher Schaustellung, wie Reichtum, Macht und Besitz. Wenn unser Herz leer ist, sammeln wir Dinge. Können wir es uns erlauben, dann umgeben wir uns mit Gegenständen, die wir für schön halten, und da wir ihnen ungeheure Bedeutung beimessen, werden wir verantwortlich für viel Elend und Zerstörung.

Erwerbssinn ist nicht Liebe zur Schönheit; er entsteht aus dem Wunsch nach Sicherheit, und sicher zu sein, heißt, unempfindlich zu sein. Das Verlangen nach Sicherung schafft Furcht; es setzt einen Vorgang der Isolierung in Gang, der Mauern des Widerstands um uns her aufrichtet, und diese Mauern verhindern alle Empfindsamkeit. Wie schön auch ein Gegenstand sein mag, er verliert nur zu bald seinen Reiz für uns; wir gewöhnen uns an ihn und anstatt Freude empfinden wir Leere und Langeweile. Die Schönheit ist noch da, aber wir sind nicht länger für sie empfänglich: sie ist in unser eintöniges tägliches Dasein eingesaugt worden.