Eltern und Lehrer – Teil 1

Rechte Erziehung beginnt mit dem Erzieher, der sich selbst begreifen und von schematischem Denken befreien muss; denn was er ist, überträgt er auf andere. Ist er selber nicht richtig ausgebildet, was kann er dann anderes lehren als dasselbe mechanische Wissen, mit dem er aufgezogen worden ist? Das Problem ist also nicht das Kind, sondern Eltern und Lehrer; das Problem heißt: den Erzieher zu erziehen.

Wenn wir, die Erzieher, uns selbst nicht verstehen, wenn wir unsere Beziehung zu dem Kinde nicht erfassen, sondern es nur mit Wissen anfüllen und Prüfungen bestehen lassen, wie können wir dann überhaupt eine neue Art der Erziehung einführen? Der Schüler ist da, damit man ihn leite und ihm helfe; ist aber der Leiter und Helfer selber verwirrt und beschränkt, national gesinnt und von Theorien beherrscht, dann ist sein Schüler natürlich ebenso wie er, und die Erziehung wird zur Quelle neuer Verwirrung und neuen Streites. Wenn wir dies als wahr erkennen, werden wir auch begreifen, wie wichtig es ist, dass wir anfangen, uns selbst richtig zu erziehen. Es ist viel nötiger, sich um die eigene Neuerziehung zu kümmern, als sich um die künftige Wohlfahrt und Sicherheit des Kindes zu sorgen.

Den Erzieher zu erziehen – das heißt, ihn zum Verständnis seiner zu bringen – ist ein sehr schwieriges Unternehmen, denn die meisten Menschen sind schon in einem Denksystem oder Handlungsschema erstarrt; wir haben uns bereits völlig einer Ideologie, einer Religion oder einer bestimmten festen Richtschnur für unser Verhalten hingegeben. Aus diesem Grunde bringen wir dem Kinde bei, was es denken, anstatt wie es denken solle. Überdies sind Eltern und Lehrer zum größten Teil mit ihren eigenen Konflikten und Leiden selbst beschäftigt. Reich oder arm, die meisten Eltern sind von ihren eigenen Sorgen und Anfechtungen erfüllt. Die heutige gesellschaftliche und moralische Entartung beunruhigt sie nicht ernstlich, sie tragen nur das Verlangen, ihre Kinder so auszustatten, dass sie in dieser Welt fortkommen können. Sie sind ängstlich um die Zukunft ihrer Kinder besorgt und eifrig darum bemüht, sie so erziehen zu lassen, dass sie sichere Stellungen bekommen oder sich gut verheiraten können.

Im Gegensatz zu der allgemeinen Annahme lieben die meisten Eltern ihre Kinder nicht, obgleich sie es beteuern. Wenn Eltern ihre Kinder wirklich liebten, würden sie nicht den Nachdruck auf ihre Familie und Nation im Gegensatz zu dem Ganzen legen, denn dies schafft gesellschaftliche und Rassenunterschiede zwischen den Menschen und führt schließlich zu Krieg und Hungersnot. Es ist wirklich erstaunenswert, dass Menschen, deren Schulung für ihre Berufe als Anwälte oder Ärzte so streng ist, Eltern werden können, ohne die geringste Ausbildung zu erhalten, welche sie für diese höchst wichtige Aufgabe tauglich macht. Sehr oft unterstützt eine Familie mit ihrer Neigung zur Absonderung die allgemeine Isolierung und wird dadurch zu einem zersetzenden Element in der Gesellschaft. Nur wenn Liebe und Verständnis herrschen, werden die Trennungsmauern niedergerissen, und dann ist die Familie kein geschlossener Kreis mehr, noch ist sie Gefängnis oder Zuflucht; dann stehen die Eltern nicht nur in Fühlung mit ihren Kindern, sondern auch mit ihren Nachbarn.

Viele Eltern, die so ganz in ihren eigenen Problemen aufgehen, schieben dem Lehrer die Verantwortung für das Wohlsein ihrer Kinder zu; dann wird es wichtig, dass der Erzieher auch bei der Erziehung der Eltern hilft. Er muss mit ihnen sprechen und ihnen erklären, dass der verworrene Zustand der Welt ihre eigene Verwirrung widerspiegelt. Er muss ihnen auseinandersetzen, dass wissenschaftlicher Fortschritt an sich keinen grundlegenden Wandel der bestehenden Werte herbeiführen kann; dass technischer Unterricht, den man heute Erziehung nennt, dem Menschen weder Freiheit noch Glück gebracht hat; und dass es der Intelligenz des Schülers nicht förderlich ist, wenn man ihn bedingt, seine gegenwärtige Umgebung gutzuheißen. Er muss ihnen mitteilen, was er für ihr Kind zu tun trachtet und wie er darangeht. Er muss das Vertrauen der Eltern erwecken, aber nicht dadurch, dass er die Autorität des Spezialisten annimmt, der es mit unwissenden Laien zu tun hat, sondern indem er mit ihnen des Kindes Beschaffenheit, seine Schwierigkeiten, Befähigungen und so weiter bespricht.

Nimmt der Lehrer wahres Interesse an dem Kinde als Einzelwesen, dann werden die Eltern Vertrauen zu ihm haben. Bei diesem Vorgang erzieht der Lehrer die Eltern ebenso wie sich selbst, während er seinerseits von ihnen lernt. Rechte Erziehung ist eine wechselseitige Aufgabe, welche Geduld, Rücksicht und Zuneigung verlangt. Aufgeklärte Lehrer in einer aufgeklärten Gemeinschaft könnten dieses Problem der Kindererziehung ausarbeiten, und Versuche in dieser Richtung sollten in kleinem Maßstabe von interessierten Lehrern und klugen Eltern gemacht werden.

Fragen sich Eltern je, wozu sie Kinder haben? Sind Kinder dazu da, um ihren Namen fortzupflanzen oder ihren Besitz weiterzuerhalten? Wollen sie Kinder nur zu ihrer Freude haben und um ihre eigenen Gemütsbedürfnisse zu befriedigen? Wenn ja, dann werden Kinder zur bloßen Projektion der Wünsche und Ängste ihrer Eltern. Können Eltern Anspruch auf Liebe zu ihren Kindern erheben, wenn sie durch falsche Erziehung Neid, Feindseligkeit und Ehrgeiz nähren? Ist es Liebe, die die Menschen im Namen von Religionen oder Ideologien gegeneinander hetzt, die nationale und Rassenfeindschaften anregt, welche zu Krieg, Zerstörung und völligem Elend führen?