Geschlecht und Ehe – Teil 1

Wie andere menschliche Probleme ist auch das Problem unserer Leidenschaften und geschlechtlichen Triebe zusammengesetzt und schwierig, und wenn der Erzieher selber nicht tief in es eingedrungen ist und die vielen Verwicklungen erkannt hat, wie kann er dann denen helfen, die er erziehen soll? Wenn eins der Eltern oder der Lehrer selber vom Aufruhr des Geschlechtslebens ergriffen ist, wie kann er dann das Kind leiten? Können wir den Kindern helfen, wenn wir selber die Bedeutung dieses ganzen Problems nicht erfassen? Die Art und Weise, wie der Erzieher eine Auffassung des Geschlechtlichen mitteilt, hängt von der Beschaffenheit seines eigenen Geistes ab; es hängt davon ab, ob er sanft und gelassen ist, oder von seinen eigenen Begierden verzehrt wird.

Warum ist aber das Geschlechtsleben für die meisten Menschen ein Problem voller Verwirrung und Konflikt? Warum ist es zu einem beherrschenden Faktor in unserem Leben geworden? Einer der Hauptgründe ist der, dass wir nicht schöpferisch sind; wir sind aber nicht schöpferisch, weil unsere gesamte gesellschaftliche und moralische Kultur wie auch unsere Erziehungsmethoden sich auf die Entwicklung des Verstandes beschränken. Die Lösung des Geschlechtsproblems liegt im Verständnis der Tatsache, dass Schöpfung nicht durch die Betätigung unseres Verstandes geschehen kann. Im Gegenteil, Schöpfung setzt erst ein, wenn der Verstand still geworden ist.

Der Intellekt, der Verstand kann an sich nur wiederholen und sich erinnern, beständig ersinnt er neue Worte und ordnet die alten neu an; und da die meisten Menschen nur mit ihrem Kopf fühlen und erfahren, leben wir ausschließlich von Worten und mechanischen Wiederholungen. Dies ist offenbar nicht schöpferisch, und da wir so unschöpferisch sind, bleibt uns als letztes schöpferisches Mittel nur das Geschlecht. Das Geschlecht gehört zum Verstande, was aber zum Verstande gehört, muss sich selber erfüllen, sonst entsteht Unbefriedigung.

Unser Denken wie unser Leben ist klar, unfruchtbar, hohl und leer; gefühlsmäßig hungern wir, religiös und intellektuell sind wir stumpf und wiederholen uns; gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich lassen wir uns beherrschen und kontrollieren. Wir sind nicht glücklich, wir sind nicht lebendig und fröhlich; zu Hause, im Geschäft, in der Kirche oder in der Schule – niemals erfahren wir einen schöpferischen Seinszustand, in unserem täglichen Denken und Handeln gibt es keine tiefe Befreiung. Während wir so gefangen und an allen Seiten gehemmt sind, wird natürlich das Geschlecht zum einzigen Auslass für uns, zu einer Erfahrung, die man wieder und wieder sucht, weil sie für einen Augenblick den Glückszustand bietet, der entsteht, wenn das Ich abwesend ist. Nicht das Geschlecht bildet unser Problem, sondern unser Verlangen, diesen Glückszustand wieder einzufangen und geschlechtliche oder andere Vergnügungen zu erlangen und festzuhalten.

In Wirklichkeit suchen wir nach tiefem, leidenschaftlichem Selbstvergessen, nach dem Identifizieren mit etwas, worin wir uns völlig verlieren können. Weil unser Ich so klein, so unbedeutend und eine Quelle des Leidens für uns ist, streben wir bewusst oder unbewusst danach, uns in individuellen oder Massenvergnügen, in hohen Gedanken oder in grober Sensation zu verlieren. Suchen wir unserem Ich zu entfliehen, dann sind die Mittel zur Flucht sehr bedeutsam, bis auch sie zu schmerzlichen Problemen für uns werden. Und sofern wir nicht die Hemmungen, die einem schöpferischen Leben und damit der Befreiung vom Ich im Wege stehen, untersuchen und begreifen, werden wir nie unser Geschlechtsproblem verstehen können.

Eins der Hindernisse zu schöpferischem Leben ist die Furcht; und Achtbarkeit ist eine Kundgebung dieser Furcht. Die Ehrbaren, die moralisch Gebundenen sind sich der vollen und tiefen Bedeutung des Lebens nicht bewusst. Sie sind innerhalb der Mauern ihrer eigenen Rechtschaffenheit eingeschlossen und können nicht darüber hinwegsehen. Ihre Moralität, wie aus buntem Glas, die sich auf Ideale und religiösen Glauben begründet, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun; und wenn sie dahinter Schutz suchen, leben sie in der Welt ihrer eigenen Illusionen. Aber trotz ihrer selbstauferlegten und befriedigenden Moral sind auch die Ehrbaren in Verwirrung, Elend und Konflikt.

Furcht, das Ergebnis unseres Verlangens nach Sicherheit, treibt uns zur Anpassung und Unterwürfigkeit unter eine Herrschaft und verhindert dadurch schöpferisches Leben. Schöpferisch zu leben bedeutet, in Freiheit zu leben, und das heißt, furchtlos zu sein; ein schöpferischer Zustand kann aber nur entstehen, wenn sich unser Sinn nicht im Verlangen und der Befriedigung des Verlangens verfängt. Nur wenn wir Herz und Sinn mit zarter Aufmerksamkeit beobachten, können wir die verborgenen Pfade unseres Begehrens enthüllen. Je nachdenklicher und liebevoller wir werden, desto weniger wird das Begehren unseren Sinn beherrschen. Nur wenn keine Liebe da ist, wird Sensation zum verzehrenden Problem.