Verstand, Autorität und Einsicht – Teil 1

Viele unter uns scheinen zu denken, dass wir unsere menschlichen Probleme lösen können, wenn wir allen Menschen Lesen und Schreiben beibringen; doch diese Idee hat sich als falsch erwiesen. Die so genannt Gebildeten sind keine friedliebenden, harmonischen Menschen, und auch sie sind für Verwirrung und Elend in der Welt verantwortlich. Rechte Erziehung bedeutet das Erwecken von Einsicht und das Entfalten eines einheitlichen Lebens, und nur solche Erziehung kann eine neue Kultur in einer friedvollen Welt herbeiführen; um aber diese neue Art der Erziehung zu schaffen, müssen wir auf einer vollkommen anderen Grundlage ganz von neuem beginnen.

Während die Welt rings um uns her zusammenbricht, erörtern wir Theorien oder eitle politische Fragen und spielen mit oberflächlichen Reformen. Ist dies nicht ein Zeichen äußerster Gedankenlosigkeit? Ein paar Menschen werden mir hier zustimmen; doch werden sie weiter so handeln, wie sie es gewohnt waren – und darin liegt die Tragik unseres Daseins. Wenn wir etwas Wahres hören, aber nicht danach handeln, wird es zu einem Gift in unserem Innern, und dieses Gift verbreitet sich und bringt psychologische Störungen, Unausgeglichenheit, oft sogar Krankheit mit sich. Nur wenn schöpferische Einsicht im Menschen erwacht, besteht die Möglichkeit eines friedvollen und glücklichen Lebens.

Wir können es nicht als intelligent bezeichnen, wenn wir lediglich eine Regierung durch eine andere, eine Partei durch eine andere oder einen Ausbeuter durch einen anderen ersetzen. Blutige Revolution wird niemals unser Problem lösen. Nur tiefe, innere Wandlung, welche alle Werte verändert, kann eine neue Umgebung, ein einsichtsvolles gesellschaftliches Gefüge schaffen, und solche Revolution kann von dir und mir herbeigeführt werden. Eine Neuordnung kann nicht entstehen, ehe wir nicht einzeln unsere psychologischen Schranken durchbrochen haben und frei sind.

Auf Papier können wir den Grundriss einer schimmernden Utopie, einer tapferen, neuen Welt aufzeichnen; doch unser Opfer der Gegenwart zugunsten einer unbekannten Zukunft kann bestimmt keines unserer Probleme beseitigen. So vieles kann zwischen heute und der Zukunft geschehen, dass niemand weiß, was sie bringen wird. Das einzige, was wir tun können und müssen, wenn wir es ernst meinen, ist dies: unsere Probleme jetzt anpacken, anstatt sie in die Zukunft hinauszuschieben. Ewigkeit liegt nicht in der Zukunft, Ewigkeit liegt im Jetzt. Unsere Probleme bestehen in der Gegenwart und können nur in der Gegenwart gelöst werden.

Wem es unter uns ernst hiermit ist, der muss sich neu gestalten; aber Erneuerung kann nur eintreten, wenn wir uns von den Werten, die wir in unserem streitlustigen Verlangen nach Selbstschutz geschaffen haben, lossagen. Selbsterkenntnis ist der Beginn aller Freiheit, und nur wenn wir uns selber kennen, können wir Ordnung und Frieden herbeiführen.

Hier könnte jemand fragen: »Wie kann das, was ein einzelner Mensch tut, die Geschichte beeinflussen? Kann er durch seine Lebensweise irgend etwas erreichen?« Sicherlich kann er es. Offenbar können wir hier nicht den unmittelbar bevorstehenden Kriegen Einhalt gebieten oder ein direktes Verständnis zwischen den Völkern vermitteln; doch können wir zum mindesten in der Welt unserer täglichen Beziehungen einen grundlegenden Wandel herbeiführen, der sein eigenes Ergebnis zeitigen wird. Aufklärung des einzelnen Menschen hat seine Wirkung auf größere Gruppen, aber nur dann, wenn man nicht nach Resultaten verlangt. Denkt man in Begriffen wie ›Vorteil‹ und ›Erfolg‹, so kann man sich selbst nicht wahrhaft umformen.

Die menschlichen Probleme sind nicht einfach, sondern sehr verwickelt. Man braucht Geduld und Einsicht, um sie zu erfassen, und es ist von höchster Wichtigkeit, dass wir als Einzelwesen sie verstehen und selber lösen. Sie lassen sich nicht mit Hilfe leichter Formeln oder mit Wahlsprüchen begreifen; noch können sie auf ihrer eigenen Ebene durch Spezialisten gelöst werden, die in einer bestimmten Richtung denken; dies führt nur weiter zu Verwirrung und Leid. Unsere zahlreichen Probleme lassen sich nur begreifen und lösen, wenn wir uns des Ich als eines Gesamtvorganges bewusst werden, das heißt, wenn wir unsere gesamte psychologische Einkleidung verstehen; und keine Religion, kein politischer Führer kann uns den Schlüssel zu solchem Verständnis geben.

Um uns selber zu begreifen, müssen wir uns unserer Beziehungen nicht nur zu Menschen, sondern auch zu Besitz, Ideen und zur Natur bewusst werden. Wollen wir eine wahre Revolution der menschlichen Beziehungen, die die Grundlage jeder Gesellschaft bilden, herbeiführen, so muss eine wesentliche Änderung unserer Werte und Anschauungen stattfinden; aber wir vermeiden die notwendige und grundlegende Umformung unserer selbst und versuchen, politische Revolutionen in der Welt durchzuführen, die stets zu Blutvergießen und Unheil führen.

Eine Beziehung, die auf Sensation aufgebaut ist, kann niemals ein Mittel zur Befreiung vom Ich werden; doch die meisten unserer Beziehungen sind auf Sensation begründet, sie sind das Ergebnis unseres Verlangens nach persönlichem Vorteil, nach Behagen und psychologischer Sicherheit. Mögen sie uns auch zeitweilig eine Flucht vor dem Ich bieten, so bestärken sie doch nur das Ich in seinen einengenden und bindenden Bestätigungen. Beziehung ist ein Spiegel, in welchem das Ich in all seinen Tätigkeiten sichtbar wird; und erst wenn die Wege des Ich in ihren Reaktionen auf die Beziehungen verstanden werden, entsteht schöpferische Befreiung vom Ich.