Erziehung und Weltfrieden – Teil 1

Will man herausfinden, welche Rolle die Erziehung in der gegenwärtigen Weltkrise spielen kann, so sollte man zu verstehen suchen, wie diese Krise entstanden ist. Offensichtlich ist sie das Ergebnis eines falschen Wertmessers bei unseren Beziehungen zu Menschen, Besitz und Ideen. Wenn unsere Beziehung zu anderen auf der Selbsterhöhung und unsere Beziehung zu Besitz auf Erwerbssucht beruht, muss die Gesellschaft notgedrungen Wettbewerb und Selbstisolierung fördern. Wenn wir in unserer Beziehung zu Ideen eine Ideologie im Gegensatz zu einer anderen rechtfertigen, müssen sich unvermeidlich gegenseitiges Misstrauen und Übelwollen ergeben.

Eine weitere Ursache des heutigen Chaos ist unsere Abhängigkeit von Autoritäten und Führern, – sei es im täglichen Leben, in einer kleinen Schule oder auf der Universität. Führer sind mit ihrer Autorität zersetzende Faktoren in jeder Kultur. Wenn wir einem anderen folgen, entsteht niemals Verständnis, sondern immer nur Furcht und Anpassung, die schließlich zu der Grausamkeit eines unumschränkt regierten Staates und dem Dogmatismus einer organisierten Religion führen.

Verlässt man sich auf Regierungen oder wendet man sich an Organisationen oder Autoritäten um den Frieden, der mit dem Verständnis des eigenen Ich beginnen muss, so schafft man weitere und größere Konflikte; und kein bleibendes Glück kann entstehen, solange wir eine gesellschaftliche Ordnung gutheißen, in der endloser Kampf und Widerstreit zwischen den Menschen herrscht. Wollen wir bestehende Bedingungen ändern, so müssen wir zuerst uns selber wandeln, das heißt aber, dass wir uns im täglichen Leben unserer Handlungen, Gedanken und Gefühle bewusst zu werden haben.

Wir streben jedoch nicht wirklich nach Frieden, wir wollen der Ausbeutung nicht ernstlich ein Ende setzen. Wir wollen es nicht zulassen, dass sich jemand in unsere Gier einmischt oder dass die Grundlagen unseres heutigen Gesellschaftsgefüges geändert werden; die Dinge sollen so weitergehen wie bisher, höchstens mit oberflächlichen Abwandlungen, und so regieren die Mächtigen und die Schlauen unvermeidlich unser Leben. Frieden lässt sich durch keine Ideologie erreichen, noch hängt er von Gesetzgebung ab; er entsteht erst, wenn jeder einzelne von uns den psychologischen Vorgang in seinem Innern zu verstehen beginnt. Weichen wir aber der Verantwortung, individuell zu handeln, aus und warten auf ein neues System, das Frieden stiften soll, dann werden wir nur zu Sklaven dieses Systems.

Wenn die Regierungen und Diktatoren, die Großindustrie und die hohe Geistlichkeit anfangen einzusehen, dass diese stets wachsende Feindschaft zwischen den Menschen nur zu blinder Zerstörung führt und daher nicht länger einträglich ist, werden sie uns vielleicht durch Gesetzgebung und andere Zwangsmittel dazu treiben, unsere persönlichen Wünsche und Bestrebungen zu unterdrücken und für die Wohlfahrt der Menschheit zusammenzuarbeiten. Genau wie wir jetzt dazu erzogen und angehalten werden, unbarmherzig miteinander zu wetteifern, so wird man uns dann zwingen, aufeinander Rücksicht zu nehmen und für die Welt als Ganzes zu arbeiten. Und obgleich wir dann alle mit Nahrung, Kleidung und Obdach wohl versorgt sein mögen, werden wir doch nicht frei von unseren Konflikten und Feindseligkeiten sein, die nur auf anderer Ebene noch viel teuflischer und zerstörender auftauchen werden. Nur freiwilliges Handeln ist moralisch und rechtschaffen, und Verständnis allein kann dem Menschen Frieden und Glück bringen.

Glauben, Ideologien und organisierte Religionen hetzen uns gegen unsere Nachbarn auf, und es entsteht Konflikt, nicht nur zwischen verschiedenen Gesellschaften, sondern sogar zwischen Gruppen derselben Gesellschaft. Dies müssen wir erkennen: solange wir uns mit unserem Vaterlande identifizieren, so lange wir an Sicherheit festhalten und uns durch Dogmen begrenzen lassen, muss Streit und Elend ebenso gut in unserm Innern wie in der Welt herrschen.

Dann kommt die Frage der Vaterlandsliebe. Wann sind wir patriotisch? Offenbar ist es kein alltägliches Gefühl. Aber wir werden unentwegt zum Patriotismus angehalten durch unsere Schulbücher, durch Zeitungen und andere Arten der Propaganda, die mit ihrem Lob nationaler Helden die Rassenüberhebung anfeuern und uns davon zu überzeugen suchen, dass unser Vaterland und unsere Lebensart besser als die der anderen sei. Diese patriotische Gesinnung nährt unsere Eitelkeit von Kindheit an bis in unser Alter. Die beständige Versicherung, dass wir einer bestimmten politischen oder religiösen Gruppe angehören, dass wir Teil dieses oder jenes Volkes sind, schmeichelt unserem kleinen Ich und bläht es auf, bis wir bereit sind, für unser Vaterland, unsere Rasse oder Ideologie zu töten oder uns töten zu lassen. Das ist alles so töricht und unnatürlich. Gewiss sind doch menschliche Wesen wichtiger als nationale und ideologische Grenzen.

Der trennende Geist des Nationalismus breitet sich wie Feuer über die ganze Welt aus. Vaterlandsliebe wird angefacht und listig ausgebeutet von denen, die nach weiterer Ausdehnung, nach mehr Macht und größerem Reichtum streben; und ein jeder von uns nimmt an dem Vorgang teil, denn auch wir verlangen nach diesen Dingen. Die Eroberung fremder Länder und Völker schafft neue Märkte für den Absatz von Waren wie auch von politischen und religiösen Ideologien.