Brockwood 1983, Fragen & Antworten 1, Frage 2, Teil 1
K (liest eine Frage vor): Ist Verlangen für den Menschen wesentlich? Können wir denn überhaupt ohne Verlangen in dieser Welt tätig sein?
Was ist Verlangen? Warum sind in unserem Leben unsere Wünsche so wichtig geworden? Warum beherrschen Sie uns? Und warum verändern sich unsere Wunschziele von Jahr zu Jahr? Warum? Die frommen Leute in aller Welt – z.B. die Mönche – erkennt man als ganz ernsthafte Menschen an, die sich verschrieben und festgelegt haben. Doch sie unterdrücken ihr Verlangen, sie werden von ihrem Verlangen gequält. Sie beten vielleicht ein Symbol, eine Person an, aber das Verlangen brennt wie ein Feuer in ihnen. Das ist eine allgemeine Tatsache. Wenn man Verlangen in seiner Eigenart verstehen will, muss man sich eingehend damit befassen. Wollen wir also gemeinsam über das Verlangen sprechen? Bitte, machen Sie mit mir mit.
Warum geben manche Menschen ihrem Verlangen so nach, ihrem Verlangen alles zu tun, was sie gern möchten? Und warum gibt es auf der anderen Seite jene Menschen, die sagen, dass man das Verlangen unterdrücken muss? Die Mönche, die Sannyasis in Indien, die buddhistischen Mönche sagen alle, dass sie ihr Verlangen beherrschen, dass sie es sublimieren müssen in Gott. Sie sagen, wandle dein Verlangen in die Anbetung deines Erlösers um. Unterdrücke dieses Verlangen, das so stark ist, lege Gelübde ab – Gelübde der Keuschheit, Gelübde des Schweigens, Gelübde, dass du nur eine Mahlzeit pro Tag zu dir nimmst. Waren Sie je in einem Kloster? Nein? Ich war mal in einem, nur um zu beobachten. Und ich beobachtete und hörte zu. Ich saß da und tat die Dinge, die sie taten. Es ist wirklich eine grausame Angelegenheit, ein Gelübde des Schweigens abzulegen und nie mehr zu sprechen. Verstehen Sie, was das bedeutet? Niemals eine Frau anzuschauen! Verstehen Sie das alles? Niemals den Himmel, die Schönheit der Bäume zu betrachten. Niemals einem anderen mitzuteilen, was Sie empfinden. Die Menschen quälen sich im Namen Gottes, im Namen des Dienstes, um Erleuchtung zu finden, um in den Himmel zu kommen. Das ist eine furchtbar peinigende und quälende Angelegenheit. Und Ursache von all dem ist das Verlangen. Ich frage mich, ob Sie das verstehen?
Die Menschen im Westen und im fernen Osten haben alles unternommen, um das Verlangen zu unterdrücken. Ich traf mal einen hoch gebildeten Inder. Er war im Westen gewesen, sprach ausgezeichnet englisch, war sehr gelehrt. Er hatte ein Gelübde abgelegt, niemals das Haus verheirateter Leute zu betreten, weil wie er sagte, Sex ein Gräuel sei. Und als er sagte, dass es ein Gräuel sei, konnten Sie die Qualen fühlen, die er durchgemacht hatte. Sagt Ihnen das alles etwas?
Deshalb wollen wir uns nun mit der Frage befassen, was Verlangen ist. Was ist Verlangen? Warum gibt es diese beiden Elemente im Leben, einerseits die Unterdrückung und die Beherrschung des Verlangens, und andererseits das Nachgeben, das Tun, was einem beliebt? Wir müssen diese Fragen betrachten und sehen, ob das Verlangen ein grundsätzlicher Lebensdrang ist. Um es noch einmal zu wiederholen: Was ist Verlangen? Mit Verlangen meinen wir auch das, was in der Welt, in Nachtclubs vor sich geht: freier Sex, tun, was man möchte, Gurus, die Ihnen dazu verhelfen das zu tun, was Sie gern möchten, Begegnungsgruppen usw. Diese Welt ist wirklich verrückt! Ich mag mich irren, aber offensichtlich stellen diese Leute niemals die Frage: Was ist das Wesen des Verlangens? Und wer ist es eigentlich, der das Verlangen beherrscht? Verstehen Sie? Dieser Drang nach etwas und die Wesenheit, die da sagt: »Tu es nicht!« oder »Tu es!« Immer ist dieser Kampf zwischen dem einen Wunsch und einem anderen im Gange. Warum läuft dieser dualistische Vorgang in den Menschen ab, warum diese widerstreitenden Vorgänge, dass man etwas will und es nicht will? Dass man etwas unterdrückt oder nachgibt? Wie kommt es zu diesem Widerspruch in uns selber? Besteht dieser Widerspruch, weil wir uns den Tatsachen nicht stellen?
Tatsachen bergen keinen Widerspruch. Eine Tatsache bleibt eine Tatsache. Ich bin zornig. Ich bin gewalttätig. Ich bin eifersüchtig, gierig. Das sind Tatsachen. Aber wenn ich sage: »Ich bin gewaltsam«, taucht sofort daneben der Gedanke auf, dass ich nicht gewaltsam sein soll, nicht wahr? Und dieses »ich darf nicht gewaltsam sein« wird zu einem Ideal, zum Ideal der Gewaltlosigkeit. So kommt es zu einem Kampf zwischen der Gewaltsamkeit, dem was ich bin, und dem Versuch, gewaltlos zu sein. Die Gewaltlosigkeit ist keine Tatsache. Ich weiß, es ist modern, über Tolstoi und Gandhi usw. zu sprechen und dass wir alle gewaltlos werden müssen, während wir aber in Wirklichkeit gewaltsame Menschen sind. Würden Sie das zugeben? Also warum stellen wir dann den Gegensatz auf? Ist es eine Flucht vor der Tatsache? Und wenn es eine Flucht vor der Tatsache ist, warum fliehen wir davor? Liegt es daran, dass wir nicht wissen, wie man mit der Tatsache umgehen soll? Ich fliehe vor etwas, weil ich nicht weiß, wie ich damit umgehen soll. Wenn ich aber weiß, wie ich damit umgehen muss, kann ich mich damit befassen, nicht wahr?
Wir wollen jetzt entdecken, wie man sich bloß mit der Tatsache und nicht mit ihrem Gegenteil befasst. Ich bin gewaltsam und nicht das Gegenteil, weil das Gegenteil keine Tatsache ist und überhaupt keinen Wert hat. Das einzige, was Wert hat, was die Wahrheit ist, ist die Tatsache, dass ich gewaltsam bin. Und was bedeutet Gewalt? Gewalt bedeutet nicht nur, dass man einem anderen Schaden zufügt, Bomben wirft und die anderen Dinge, die so in der Welt geschehen, sondern es ist auch Gewalt, wenn man vergleicht. Wenn ich mich mit Ihnen vergleiche, der Sie klug, helle, edel sind, was geschieht dann? Im Vergleich sehe ich mich selber als dumm. Warum vergleichen wir uns? Natürlich müssen wir vergleichen. Wir vergleichen das eine Auto mit dem anderen, das eine Kleid mit dem anderen, wenn wir das Geld dazu haben. Das ist unvermeidlich. Aber warum vergleiche ich mich psychologisch mit einem anderen? Liegt es daran, weil ich nicht weiß, wie ich mit mir selber umgehen soll? Wenn Sie zu einem Jungen sagen: »Du sollst (oder sollst nicht) wie dein älterer Bruder sein«, wie das die meisten Eltern tun, was tut das dann dem Jungen an? Wenn Sie B mit A vergleichen, was tut das B an? Haben Sie je darüber nachgedacht? Verstehen Sie meine Frage? Ich habe zwei Söhne oder zwei Töchter. Ich vergleiche den Jüngeren mit dem Älteren und sage: »Du sollst so wie er sein.« Was tut ihm das an? Er imitiert, er passt sich an. Sie haben ein Muster festgelegt. Dieser Vergleich ist eine Form von Gewalt. Ich frage mich, ob Sie das erkennen? Imitation ist Gewalt. Wissen Sie, Gewalt ist sehr vielschichtig. Sie müssen alle ihre Feinheiten untersuchen.
Wenn Sie die Gewalt betrachten, sehen was dieses Wort beinhaltet, erschließt es sich Ihnen mehr und mehr und enthüllt Ihnen viele ungewöhnliche Dinge. Wenn Sie aber Gewaltlosigkeit, die eine Illusion und keine Tatsache ist, verfolgen, hat das wenig Sinn.
Wie beobachten Sie Gewalt? Unterscheidet sich in Ihrer Beobachtung der Beobachter von dem, was Sie Gewalt nennen? Verstehen Sie? Ich bin gewaltsam. Das Wort bezeichnet die Reaktion. Ich verwende das Wort, um diese besondere Reaktion zu identifizieren. Und indem ich dieses Wort dauernd benutze, stärke ich dieses Gefühl. Kann ich mich also von dem Wort freimachen und schauen?