Brockwood 1983, Fragen & Antworten 2, Frage 5
K (liest eine Frage vor): Sie sprechen über Gewalt und Freiheit, aber Sie sagen sehr wenig über das Gesetz. Warum? Keine zivilisierte Gesellschaft kann ohne Gesetze auskommen, dabei müssen Gesetze manchmal mit Macht durchgesetzt werden, und das bedeutet Gewalt Was tun Sie, wenn Terroristen Geiseln gefangen nehmen? Lassen Sie zu, dass die Geiseln getötet werden oder stürmen Sie das Gebäude? Wo ist hier die Freiheit?
K: Gesetze. Was ist Gesetz? Gesetz bedeutet im Grunde Ordnung, nicht wahr? Eine Gesellschaft richtet bestimmte Gesetze ein, die Ordnung schaffen sollen, aber gerade diese Gesetze werden von listigen und kriminellen Leuten gebrochen, die dann zur Verteidigung hervorragende Rechtsanwälte nehmen. Sie wissen das alles. Wo beginnt das Gesetz, die Ordnung? In den Gerichten? Bei der Polizei? Wo fängt die Ordnung an? Bitte fragen Sie sich! Die Gesellschaft ist in Unordnung. Das ist eine Tatsache. Sie ist korrupt, unmoralisch und fast chaotisch. Und die Regierungen versuchen, Ordnung in das alles zu bringen. Wir leben in Unordnung, Unklarheit, Ungewissheit und suchen nach unserer eigenen Sicherheit, nicht nur nach unserer persönlichen, sondern auch nach der Sicherheit unserer Familie usw. Jeder Einzelne trägt durch seine Abspaltung zu der Unordnung bei. Wo sind da Ordnung und Gesetz? Bei dem Polizeibeamten? Bei den Rechtsanwälten? Rechtsanwälte sind bereit, einen Verbrecher zu schützen, der ihnen enorme Summen zahlt. Wo sind da Ordnung und Gesetz? Sollten wir uns nicht zuerst einmal der Unordnung stellen? Unordnung ist eine Tatsache. Wir leben in Unordnung, und die Gesellschaft ist in Unordnung. Die Regierungen sind in Unordnung. Die Politiker, die Ministerpräsidenten, die Leute hoch oben in der Hierarchie der Regierungen, jeder einzelne ist hinter Macht und Position her, hält an seinen bestimmten Vorstellungen fest, identifiziert sich mit jenen Vorstellungen, mit jenen Ideologien. Und nicht nur die Politiker – wir alle arbeiten getrennt für uns selber. In großen Krisenzeiten wie im Krieg kommen wir zusammen, aber sobald die Krise vorüber ist, sind wir wieder im alten Muster. Wollen Sie also nicht zu entdecken beginnen – ich möchte Ihnen das nur vorschlagen – ob man das Gesetz im Alltag leben kann, d.h. ob man in vollkommener Ordnung leben kann? Ob Sie in vollkommener Ordnung ohne irgendwelche Unklarheit leben können? Stellen Sie sich diese Frage. Können Sie leben, ohne das eine zu sagen und etwas anderes zu tun, ohne das eine zu denken und ganz anders zu handeln, d.h. ohne Widerspruch leben? Solange wir in Unordnung leben, wird die Gesellschaft, werden die Regierungen in Unordnung bleiben.
Gesetz beinhaltet Gerechtigkeit, nicht wahr? Gibt es Gerechtigkeit in der Welt? Sie sind reich, ich bin arm. Sie sind helle, Sie können reisen, Sie können ins Ausland fahren, Sie können alles mögliche machen, und ich kann das nicht. Sie wurden bei reichen Leuten geboren, und der Bursche in East End ist arm. Wo ist also Gerechtigkeit? Gibt es Gerechtigkeit in der Welt? Untersuchen Sie das alles. Gerechtigkeit setzt Gleichheit voraus. Wir sagen alle »Gleichheit vor dem Gesetz«. Aber die Gleichheit wird verleugnet, wenn sie sich den Anwalt mit dem höchsten Honorar leisten und ich mir keinen hochdotierten Anwalt nehmen kann. Das ist sofort Ungleichheit. Wo finden Sie also Gerechtigkeit, Gesetz und Ordnung?
Daraus entsteht eine sehr schwierige Frage, nämlich die: wenn man die Tatsache zugibt, dass es in der Welt keine Gerechtigkeit gibt – Sie sind in einer guten Lage, haben einen guten Ruf, haben Autos, Häuser, Frauen und alles übrige und ich lebe in einer kleinen Hütte – dann gibt es keine Gleichheit. Wenn man sich also dieser Tatsache stellt, fragt man: Gibt es überhaupt Gerechtigkeit? Sie fragen das? Ich fordere Sie nicht auf, das zu fragen.
Gleichheit und Gerechtigkeit sind da, wo Erbarmen ist. Erbarmen bringt Intelligenz mit sich. Wenn diese wunderbare Flamme des Erbarmens da ist, gibt es keinen Unterschied zwischen arm und reich, zwischen dem Gutsituierten und jenen Leuten, die nichts auf Gottes Erde haben.
Zuhörer: Da ich diese Frage gestellt habe, darf ich weiterfragen? Wenn man dieses Erbarmen hat, muss man auch die Tatsache akzeptieren, dass man um dieses Erbarmens willen getötet werden kann.
K: Ich werde getötet, nun gut. Ich werde getötet. Und was ist dabei, getötet zu werden?
Zuhörer: Die meisten Leute würden sagen, dass Sie – wenn Sie tot sind – nicht in der Lage sind, etwas zu tun.
K: Sind wir denn jetzt in der Lage, etwas zu tun?
Zuhörer: Ja.
K: Was? Diese Kriegsgefahr zu stoppen? Die Atomreaktoren explodieren in einem Teil des Landes, so dass Sie niemals mehr in den nächsten fünfundzwanzigtausend Jahren in die Nähe kommen dürfen. Was können Sie da tun?
Zuhörer: Jene Leute, die Friedensgruppen und jene Leute, die dieses Erbarmen haben, scheinen die ersten Opfer zu sein, die man angreift.
K: Ich bin nicht sicher. Man hat den Sprecher sehr oft bedroht.
Zuhörer: Aber Sie leben nicht in Mittelamerika.
K: Nein, weder in Honduras, noch in Nicaragua oder San Salvador. Ich kann da nichts machen, aber ich kann hier etwas machen.
Ich habe gesagt, Erbarmen bringt große Intelligenz mit sich. Erbarmen kann keinesfalls sein, wenn Sie sich mit einer Gruppe, mit einer bestimmten Form der Anbetung oder mit einer religiösen Organisation identifizieren. Das ist kein Erbarmen, wenn Sie nach Indien gehen, um irgendeine Sozialarbeit zu tun, an eine Kirche gebunden sind. Das ist Mitleid, das ist Sympathie.
Wir wollen zuerst herausfinden, ob wir barmherzig werden können. Um an diesen Punkt zu kommen, muss man ungewöhnlich wach für alle menschlichen Schwächen, für alle menschliche Beschränktheit sein, die die eigene Grenze ist. Sie sind von der übrigen Menschheit nicht getrennt. Wenn Sie diese Wahrheit einmal erkannt haben, verändert sich völlig Ihre Einstellung zum Leben und Handeln.