Brockwood 1983, Rede 2, Teil 1

Gestern haben wir über Konflikte gesprochen – nicht nur über die in unserem Innern sondern über die der Gesellschaft, in der wir leben – über Konflikte zwischen Nationen, Gruppen, verschiedenen Gurus und Ideologien. Seit Jahrhunderten leben die Menschen in einem Zustand des Dauerkonflikts, des Kampfes. Sie leben im Kampf miteinander, sie bringen einander um, sie zerstören das, was sie geschaffen haben und bauen es dann wieder auf. Seit fünftausend Jahren oder noch länger ist das der Hergang der Geschichte. Auch die meisten Religionen haben zu Kriegen geführt. So lebt der Mensch auf dieser Erde ohne Frieden. Es scheint fast unmöglich zu sein, dass man in Frieden lebt, dass man nicht nur in seinen persönlichen Beziehungen ohne Konflikt und Aggression lebt, sondern auch mit jenen, mit denen man nicht übereinstimmt oder die nicht denselben Glauben, dieselben Vorstellungen, dieselbe Kultur haben. Also gibt es diesen andauernden endlosen Kampf und Konflikt. Deshalb fragt man sich, ob man in dieser Welt ganz in Frieden leben kann. Nur im Frieden allein kann eine Blume blühen. Nur im Frieden allein kann der menschliche Geist, kann das menschliche Gehirn wirklich frei werden. Warum kann der Mensch, der soviel gelernt hat, der über so großes Wissen verfügt, Erfahrungen gemacht hat, warum kann er nicht in Frieden leben?

Wie wir gestern schon sagten, ist das hier keine Rede, kein Vortrag über ein bestimmtes Thema, über das Sie sich informieren oder über das Sie etwas lernen sollen. Vielmehr untersuchen wir diese Frage gemeinsam. Wir untersuchen vorurteilslos und vernünftig, ohne feste Schlussfolgerungen zu ziehen, warum wir Menschen auf dieser schönen Erde nicht in Frieden leben können.

Es gibt verschiedene chemische Substanzen, die den Menschen friedlich machen können. Auch der Glaube wirkt – durch die Hoffnung, dass er dadurch friedlich werden würde – wie eine schwere Droge auf den Menschen. Die meisten von Ihnen glauben an eine Form des Erlösers, und dieser Glaube hält Sie halbwegs zahm.

Alle Weltreligionen lehren: meditiert, gehorcht, folgt, verletzt einander nicht, liebt Euch. Doch trotz allem, oder gerade darum, lebt der Mensch nicht in Frieden und hat auch keine friedliche Gesellschaft geschaffen. Warum? Sie stellen die Frage, nicht bloß ich.

Unterscheiden wir uns – ein jeder von uns – von der Welt da draußen? Sind Sie als Brite oder Franzose, als Amerikaner oder Russe oder Inder, oder welcher Nationalität Sie auch immer angehören mögen, sind Sie anders als die übrige Menschheit? Sind Sie abgetrennte Individuen, die getrennt kämpfen? Sind Sie getrennte Seelen, die ihre eigene Erfüllung, ihr eigenes Glück, ihre eigene Erlösung suchen und sich dabei mit etwas Edlem, Täuschendem, Eingebildetem identifizieren? Leben Sie auf dieser Erde abgesondert, ein jeder getrennt vom anderen, abgetrennt von der übrigen Menschheit? Diese Abtrennung, dieser sogenannte »Individualismus« könnte eine der Ursachen sein, warum die Menschen in ihren internationalen Beziehungen oder mit ihrem Nachbarn nicht in Frieden leben.

Bitte, Sie und der Sprecher stellen diese Fragen. Der Sprecher stellt diese Fragen nicht, damit Sie sie beantworten. Das ist eine Frage, der sich jeder von Ihnen stellen muss. Entweder stellen Sie sich der Frage intelligent, vernünftig und gescheit, oder Sie fliehen in irgendeine Art der Illusion.

Friede kann erst dann sein, wenn wir vollkommene Sicherheit haben, wenn wir sowohl von der äußeren als auch von der inneren Angst frei sind, d.h. frei sowohl von der psychologischen als auch von der durch die Umwelt bedingten Angst. Wir alle, selbst der größte Wissenschaftler und der ärmste ungebildete Dorfbewohner, brauchen diese Art der Freiheit. Wir alle wollen Sicherheit wie jedes Tier, wie alles, was lebt. Und wir haben keine Sicherheit. Wir suchen in den Religionen, im Glauben, in den Ideologien nach ihr, oder indem wir irgendeiner Autorität folgen. Und doch bleiben wir abgetrennt, unsicher. Jeder einzelne sucht nach seiner bestimmten Form der Sicherheit. Muss er da nicht unvermeidlich mit anderen in Konflikt geraten, die auch ihre eigene besondere Art der Sicherheit suchen? Liegt nicht eine der grundlegenden Ursachen für den Konflikt der Menschen in ihrem Denken, dass sie getrennte, abgesonderte Wesenheiten seien?

Sind Sie von der übrigen Menschheit getrennt? Verstehen Sie die Frage? Sind Sie Individuen? Suchen Sie als Individuum Ihr eigenes Glück, Ihre eigenen Freuden, einsam in Ihren Illusionen, in Ihrer besonderen Art eingebildeter Hoffnung? Diese Frage sollte man vorsichtig beantworten und tief in sie eindringen. Liegt hier die Ursache für den Konflikt in der Welt? Wenn das die Ursache ist – und das ist vernünftig, wirklich, real – dann müssen wir uns damit befassen. Oder ist das echt illusorisch? Jeder von uns ist dazu erzogen worden zu denken, dass wir getrennte Individuen seien. Aber ist das eine Tatsache? Unser Bewusstsein besteht aus unserem Verhalten, unseren Reaktionen, unseren Freuden, Ängsten, Sorgen, Schmerz und allen unseren Erfahrungen und unserem Wissen. Alles das ist unser Bewusstsein. Das sind wir, das ist ein jeder von uns. Unterscheidet sich dieses Bewusstsein von der übrigen Menschheit? Verstehen Sie meine Frage?