Wissen ist nicht alles

Ihr erinnert euch wahrscheinlich daran, dass wir über Angst gesprochen haben. Aber ist nicht Angst der Grund für die Ansammlung von Wissen? Das ist ein schwieriges Thema. Wir wollen schauen, ob wir ihm auf den Grund gehen können, und deshalb sollten wir es ganz sorgfältig betrachten.

Die Menschen sammeln Wissen an, sie verehren es; und zwar nicht nur naturwissenschaftliches, sondern auch so genanntes spirituelles Wissen. Sie halten Wissen für so ungeheuer wichtig im Leben – das Wissen darüber, was geschehen ist und geschehen wird. Dieses ganze Anhäufen von Wissen, diese Vergötterung des Wissens – kommt das nicht aus der Angst? Wir befürchten, dass wir ohne Wissen verloren wären, dass wir nicht wüssten, wie wir uns verhalten sollen. Durch das Lesen der Worte weiser Menschen, durch die Überzeugungen und Erfahrungen anderer sowie unsere eigenen Erfahrungen, erwerben wir allmählich einen Hintergrund von Wissen, der zur Tradition wird, und in dieser Tradition suchen wir Zuflucht. Wir glauben, dass dieses Wissen oder diese Tradition etwas Wesentliches sei und dass wir ohne sie verloren wären, dass wir nicht wüssten, was wir tun sollen.

Was meinen wir eigentlich mit dem Wort »Wissen«? Was wissen wir? Was wisst ihr wirklich, wenn ihr euch euer angesammeltes Wissen betrachtet? Auf einer bestimmten Ebene, in der Naturwissenschaft, in der Technik und so weiter, ist Wissen wichtig – aber was wissen wir darüber hinaus?

Habt ihr euch je Gedanken über diesen Prozess der Ansammlung von Wissen gemacht? Warum lernt ihr, warum legt ihr Prüfungen ab? Auf einer bestimmten Ebene ist Wissen notwendig, nicht wahr? Ohne Kenntnisse in Mathematik und anderen Fächern könnte man nicht Ingenieur oder Wissenschaftler sein. Die Gesellschaftsstrukturen sind auf solchem Wissen aufgebaut, und wir könnten ohne es nicht unseren Lebensunterhalt verdienen. Aber was wissen wir darüber hinaus? Welche Art von Wissen gibt es jenseits davon?

Was meinen wir, wenn wir sagen, dass Wissen notwendig ist, um Gott zu finden oder sich selbst zu erkennen oder um im Chaos des Lebens den eigenen Weg zu finden? Hier meinen wir Wissen im Sinne von Erfahrung; und was ist diese Erfahrung? Was wissen wir durch Erfahrung? Benutzt das Ego, das »Ich«, dieses Wissen nicht, um sich aufzublasen?

Nehmen wir beispielsweise an, ich habe eine gewisse gesellschaftliche Stellung erreicht. Diese Erfahrung und das damit verbundene Gefühl, erfolgreich, angesehen und mächtig zu sein, geben mir eine gewisse Sicherheit, ein angenehmes Gefühl der Geborgenheit. Und so stärkt mein Wissen um meinen Erfolg, mein Wissen darum, dass ich »Jemand« bin, eine Position innehabe, Macht habe, mein »Ich«, mein Ego, nicht wahr?

Habt ihr nicht bemerkt, wie aufgeblasen die Schriftgelehrten vor lauter Wissen sind, oder dass eure Eltern oder Lehrer aufgrund ihres Wissens die Haltung einnehmen »ich habe mehr Erfahrung als du, ich weiß, und du nicht«? So wird Wissen, das bloße Information ist, allmählich zur Grundlage von Eitelkeit, zur Nahrung des Egos, des »Ich«. Denn das Ego kann ohne die eine oder andere Form parasitärer Abhängigkeit nicht existieren.

Der Wissenschaftler benutzt sein Wissen, um seine Eitelkeit zu nähren, um das Gefühl zu haben, dass er »Jemand« ist, so wie der Schriftgelehrte es tut. Lehrer, Eltern, Gurus – sie alle wollen »Jemand« sein in dieser Welt, also benutzen sie Wissen, um dieses Ziel zu erreichen, diesen Wunsch zu erfüllen; aber was wissen sie wirklich, wenn du hinter ihre Worte blickst? Sie wissen nur, was in Büchern steht oder was sie erfahren haben, und ihre Erfahrungen hängen vom Hintergrund ihrer Konditionierung ab. Wie sie sind die meisten von uns mit Worten, mit Informationen vollgestopft, die wir Wissen nennen, und ohne das sind wir verloren. Also lauert immer die Angst hinter dieser Wand aus Wörtern und Informationen.

Wo Angst ist, ist keine Liebe, und Wissen ohne Liebe zerstört uns. Das ist es, was gegenwärtig in der Welt geschieht. Wir verfügen heute beispielsweise über genügend Wissen, um alle Menschen zu ernähren; wir wissen, wie man die ganze Menschheit mit Nahrung, Kleidung und Wohnraum versorgen kann, aber wir tun es nicht, weil wir in nationalistische Gruppen gespalten sind, die alle ihre eigenen egoistischen Ziele verfolgen. Wenn wir wirklich den Wunsch hätten, ohne Kriege zu leben, könnten wir es tun, aber wir haben diesen Wunsch nicht – und zwar aus den gleichen Gründen. So wird Wissen ohne Liebe also zu einem Mittel der Zerstörung. Solange wir das nicht verstehen, wird das bloße Ablegen von Prüfungen, das Erlangen von Macht und Prestige nur zu Verfall und Korruption und zum allmählichen Schwund der Menschenwürde führen.

Natürlich muss man auf bestimmten Ebenen über Wissen verfügen, aber noch wichtiger ist es zu erkennen, auf welche Weise Wissen egoistisch benutzt und für eigensüchtige Zwecke eingesetzt wird. Beobachtet euch selbst, und ihr werdet sehen, wie euer Geist Erfahrungen als Mittel zur Selbstexpansion einsetzt. Beobachtet die Erwachsenen, und ihr werdet sehen, wie sie sich um Positionen reißen und sich an ihren Erfolg klammern. Sie wollen ein sicheres Nest um sich herum bauen, wollen Macht, Prestige, Autorität – und die meisten von uns sind auf die eine oder andere Weise hinter denselben Dingen her. Wir wollen nicht wir selbst sein, was immer wir sind, wir wollen »Jemand« sein. Aber es gibt natürlich einen Unterschied zwischen »sein« und »sein wollen«. Der Wunsch, zu sein oder zu werden, wird aufrechterhalten und gestärkt durch Wissen, das zur Selbsterhöhung benutzt wird.

Es ist für uns alle wichtig, wenn wir heranwachsen, diesen Problemen auf den Grund zu gehen und sie zu verstehen, damit wir einen Menschen nicht nur respektieren, weil er einen Titel oder eine hohe Position innehat oder anscheinend über großes Wissen verfügt. In Wirklichkeit wissen wir sehr wenig. Vielleicht haben wir viele Bücher gelesen, aber sehr wenige Menschen machen direkte Erfahrungen. Das Wesentliche ist die direkte Erfahrung der Wirklichkeit, von Gott, und das setzt Liebe voraus.