Nicht Erinnern ist kreativ, sondern Verstehen – Teil 1

Vielleicht sind einige von euch an dem interessiert, was ich über den Neid gesagt habe. Ich benutze nicht das Wort »erinnern«, weil das bloße Erinnern von Wörtern oder Sätzen, wie ich bereits sagte, den Geist abstumpfen lässt, ihn träge, schwerfällig und unkreativ macht. Es ist sehr destruktiv, bloß Gedächtnisinhalte abzurufen. Und es ist ganz wichtig, dass ihr besonders in jungen Jahren Dinge versteht, anstatt nur euer Gedächtnis zu trainieren, denn Verstehen befreit den Geist, es weckt die Fähigkeit zu kritischem, analytischem Denken. Es versetzt euch in die Lage, die Bedeutung einer Tatsache zu sehen und sie nicht bloß zu rationalisieren. Wenn ihr bestimmte Aussagen, Sätze oder Vorstellungen, beispielsweise über Neid, bloß abruft, dann hindert euch diese Erinnerung daran, euch anzuschauen, was Neid wirklich ist. Seht und versteht ihr aber den Neid, der sich hinter der Fassade von guten Taten, Menschenfreundlichkeit und Religion verbirgt – und hinter eurem eigenen Wunsch, herausragend zu sein, ein großer Heiliger zu sein –, erkennt und versteht ihr das wirklich selbst, dann werdet ihr zu einer außergewöhnlichen Freiheit von Neid und Eifersucht gelangen.

Es ist also wirklich wichtig, das zu verstehen, denn Erinnern ist eine tote Sache und vielleicht einer der Hauptgründe für die Degeneration des Menschen. Wir neigen stark dazu, nachzuahmen, zu kopieren, uns an Idealen oder Helden zu orientieren; und was geschieht? Die Flamme der Kreativität erstickt allmählich, und es bleibt nur das Bild, das Symbol, das Wort, ohne etwas dahinter. Man bringt uns bei, Dinge auswendig zu lernen, und das ist eindeutig nicht kreativ. Das bloße Abrufen von Inhalten, die man in Büchern gelesen hat oder von Lehrern vermittelt bekam, hat nichts mit verstehen zu tun, und wenn man sein Leben lang nur sein Gedächtnis trainiert, wird die Fähigkeit zu echtem Verstehen allmählich zerstört.

Bitte hört sehr aufmerksam zu, denn es ist sehr wichtig, dass ihr dies versteht. Verstehen ist kreativ, nicht Gedächtnisleistung, nicht bloßes Erinnern. Verstehen ist der Schlüssel zur Freiheit, nicht die Dinge, die ihr im Kopf gespeichert habt. Und Verstehen findet nicht in der Zukunft statt. Durch das bloße Trainieren des Gedächtnisses kommt die Vorstellung von Zukunft ins Spiel, aber wenn ihr unmittelbar versteht, das heißt, wenn ihr eine Sache sehr klar für euch selbst erkennt, dann gibt es kein Problem. Ihr habt nur dann ein Problem, wenn ihr nicht klar seht.

Wichtig ist daher also nicht, was ihr wisst, nicht das Wissen oder die Erfahrungen, die ihr gesammelt habt, sondern die Fähigkeit, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und sie unmittelbar zu verstehen, denn Verstehen ist immer unmittelbar, es passiert nicht in der Zukunft. Wenn Erfahrung und Wissen an die Stelle von Verstehen treten, werden sie zu zerstörerischen Elementen im Leben. Die meisten von uns betrachten Erfahrung und Wissen als außerordentlich wichtig, aber wenn man hinter die Begriffe schaut und die wahre Bedeutung von Wissen und Erfahrung erkennt, wird man feststellen, dass sie zu den Hauptursachen für den menschlichen Niedergang zählen. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir auf allen Ebenen unserer Existenz auf Wissen verzichten können. Es ist in Ordnung und notwendig zu wissen, wie man einen Baum pflanzt und pflegt oder wie man Hühner füttert oder angemessen für seine Familie sorgt oder wie man eine Brücke baut und so weiter. Uns steht eine Menge technisches Wissen zur Verfügung, das gut und richtig eingesetzt werden kann. Es ist beispielsweise gut, dass wir wissen, wie man einen Dynamo oder einen Motor konstruiert. Aber wenn es an Verstehen mangelt, dann wird Wissen, das auf dem bloßem Abrufen von Gedächtnisinhalten beruht, zu etwas sehr Zerstörerischem. Und ihr werdet feststellen, dass auch Erfahrung destruktiv wird, weil Erfahrung den Gedächtnishintergrund stärkt.

Ich frage mich, ob ihr schon einmal bemerkt habt, wie viele Erwachsene bürokratisch, wie Beamte denken. Wenn sie Lehrer sind, beschränkt sich ihr Denken auf diese Funktion, sie sind keine Individuen, in denen das Leben pulsiert. Sie kennen die Grammatikregeln oder die mathematischen Formeln oder ein wenig Geschichte, und weil ihr Denken auf diese Gedächtnisinhalte, diese Erfahrung beschränkt ist, werden sie von ihrem Wissen zerstört. Leben kann man nicht von jemand anderem lernen. Das Leben ist etwas, dem man lauscht, das man von Moment zu Moment versteht, ohne Erfahrung anzusammeln. Denn was habt ihr letztendlich, wenn ihr Erfahrung gesammelt habt? Wenn ihr sagt: »Ich habe eine Menge Erfahrungen gemacht« oder »ich kenne die Bedeutung dieser Wörter«, dann ist das Erinnerung, nicht wahr? Ihr habt bestimmte Erfahrungen gemacht, ihr habt gelernt, wie man ein Büro leitet, ein Gebäude errichtet oder eine Brücke baut, und vor diesem Hintergrund sammelt ihr weitere Erfahrungen. Ihr kultiviert Erfahrung, Gedächtnisleistung, und mit diesen Gedächtnisinhalten begegnet ihr dem Leben.

Das Leben fließt wie ein Fluss, es ist schnell, beweglich, steht nie still; und wenn ihr dem Leben mit der schweren Last des Gedächtnisses begegnet, seid ihr natürlich nie in Kontakt mit ihm. Ihr begegnet dem Leben mit eurem eigenen Wissen, eurer eigenen Erfahrung, die die Last des Gedächtnisses nur vergrößert, und so werden Wissen und Erfahrung allmählich zu zerstörerischen Elementen in eurem Leben.

Ich hoffe, dass ihr das wirklich versteht, denn was ich sage, ist sehr wahr; und wenn ihr es versteht, werdet ihr Wissen auf angemessene Weise nutzen. Aber wenn ihr es nicht versteht und nur Wissen und Erfahrungen ansammelt, um im Leben weiterzukommen, um eure Position in der Welt zu stärken, dann werden Wissen und Erfahrung äußerst destruktiv, sie werden eure Eigeninitiative, eure Kreativität zerstören. Die meisten von uns sind so sehr durch Autoritäten belastet, durch das, was andere Leute gesagt haben, durch die Bhagavadgita oder durch irgendwelche Vorstellungen, dass unser Leben sehr stumpf geworden ist. Das alles sind Gedächtnisinhalte, Erinnerungen, nichts, was wir verstanden haben, nichts Lebendiges. Es ist nichts Neues möglich, solange wir die Last unserer Erinnerungen herumschleppen, und so können wir das Leben, das ständig neu ist, nicht verstehen. Deshalb ist unser Leben sehr öde und langweilig; wir werden träge, wir werden geistig und körperlich fett und hässlich. Es ist sehr wichtig, das zu verstehen.