Verstehen ist nicht Erinnern – Teil 1

Es geht nicht darum, dass ihr euch bloß an alles erinnert, was ich in diesen Vorträgen sage. Ihr sollt nicht versuchen, das, was ihr hört, in eurem Gedächtnis zu speichern, damit ihr euch später daran erinnern und entweder darüber nachdenken oder danach handeln könnt. Wenn ihr nur im Gedächtnis speichert, was ich zu euch sage, ist es nichts als eine Erinnerung, es ist nichts Lebendiges, ihr versteht es nicht wirklich. Das Verstehen ist das Wichtige, nicht das Erinnern. Ich hoffe, ihr erkennt den Unterschied. Verstehen ist etwas Unmittelbares, Direktes, eine intensive Erfahrung. Aber wenn ihr euch bloß an das, was ich sage, erinnert, dient es nur als Muster, als Beispiel, dem ihr folgt, als Wahlspruch, den ihr wiederholt, als Idee, die ihr imitiert, als Ideal, das ihr zur Basis eures Lebens macht. Verstehen hat nichts mit Erinnern zu tun. Es ist eine fortwährende Intensität, ein ständiges Entdecken.

Wenn ihr euch also an das, worüber ich spreche, nur erinnert, werdet ihr vergleichen und versuchen, euer Handeln entsprechend zu ändern oder es dem Erinnerten anzupassen. Aber wenn ihr wirklich versteht, dann entspringt euer Handeln diesem Verstehen, und dann müsst ihr nicht nach eurem Gedächtnis handeln. Deshalb ist es so wichtig, nicht nur zu speichern, sondern zuzuhören und unmittelbar zu verstehen.

Wenn ihr euch an bestimmte Wörter, Sätze oder Gefühle erinnert, die hier wachgerufen werden, und euer Handeln mit dem vergleicht, woran ihr euch erinnert, besteht immer eine Kluft zwischen eurem Handeln und dem Erinnerten. Aber wenn ihr wirklich versteht, kopiert ihr nicht. Jeder, der ein gewisses Erinnerungsvermögen hat, kann sich an Wörter erinnern und Prüfungen bestehen, aber wenn ihr anfangt zu verstehen, was es mit dem, das ihr seht, hört und fühlt, auf sich hat, dann führt dieses Verstehen zu einem Handeln, das ihr nicht lenken, formen oder kontrollieren müsst.

Wenn ihr nur erinnert, werdet ihr immer vergleichen, und Vergleichen erzeugt Neid, auf dem unsere ganze habgierige Gesellschaft basiert. Vergleichen kann nie zu Verstehen führen. Verstehen geht mit Liebe einher, während Vergleichen reiner Intellektualismus ist. Es ist ein mentaler Prozess des Nachahmens, des jemandem Folgens, der immer die Gefahr mit sich bringt, welche in der Beziehung zwischen Führer und Geführtem lauert. Könnt ihr das sehen?

In dieser Welt beruhen die Gesellschaftsstrukturen auf dem Führen und dem Folgen, dem Beispiel und dem, der dem Beispiel folgt, dem Helden und dem, der den Helden verehrt. Wenn ihr einmal schaut, was hinter diesem Prozess des Führens und Nachfolgens steckt, werdet ihr feststellen, dass ein Mensch, der einem anderen folgt, keine Eigeninitiative hat. Weder ihr noch der Führer könnt frei sein, denn ihr erschafft den Führer, und dann kontrolliert er euch. Solange ihr einem Beispiel der Opferbereitschaft, Großartigkeit, Weisheit, Liebe folgt, solange ihr ein Ideal habt, an das ihr euch erinnern und das ihr imitieren müsst, wird unweigerlich eine Kluft existieren, eine Trennung zwischen dem Ideal und eurem Handeln. Ein Mensch, der diese Wahrheit wirklich erkennt, hat kein Ideal, kein Vorbild; er folgt niemandem. Für ihn gibt es keinen Guru, keinen Mahatma, keinen heldenhaften Führer. Er versteht stets, was in ihm selbst ist, und was er von anderen hört, ob von seiner Mutter oder seinem Vater, einem Lehrer oder von einem Menschen wie mir, der gelegentlich in sein Leben tritt.

Wenn ihr jetzt zuhört und versteht, dann folgt oder imitiert ihr nicht. Deshalb entsteht keine Angst, aber Liebe.

Es ist sehr wichtig, dass ihr das alles für euch selbst erkennt, damit ihr nicht von Helden hypnotisiert oder von Beispielen, Idealen verblendet werdet. An Beispiele, Helden, Ideale muss man sich erinnern, sie werden aber leicht vergessen; deshalb braucht man eine ständige Erinnerungshilfe in Form eines Bildes, einer Statue oder eines Wahlspruchs. Wenn ihr einem Ideal, einem Vorbild nacheifert, dann ist das einfach ein Erinnerungsprozess, und Erinnern hat nichts mit Verstehen zu tun. Ihr vergleicht das, was ihr seid, mit dem, was ihr sein wollt, und eben dieser Vergleich erschafft Autorität, erzeugt Neid und Angst, und darin gibt es keine Liebe.

Bitte hört euch das alles sehr aufmerksam an und versteht es, damit ihr keine Führer braucht, denen ihr folgen müsst, keine Vorbilder, keine Ideale zur Nachahmung, denn dann seid ihr freie Individuen und bewahrt eure Menschenwürde. Ihr könnt nicht frei sein, wenn ihr euch ständig mit einem Ideal vergleicht, mit etwas, das ihr sein solltet. Zu verstehen, was ihr tatsächlich seid – ganz gleich, wie hässlich oder wie schön oder wie ängstlich –, bedeutet nicht, dass ihr euch an etwas erinnert, euch bloß ein Ideal ins Gedächtnis ruft. Ihr müsst euch selbst beobachten, euch in euren alltäglichen Beziehungen jeden Augenblick bewusst wahrnehmen. Die bewusste Wahrnehmung dessen, was ihr tatsächlich seid, bewirkt den Prozess des Verstehens.

Wenn ihr wirklich versteht, wovon ich spreche, wirklich total zuhört, werdet ihr frei sein von all den falschen Dingen, die die vorhergehenden Generationen geschaffen haben. Ihr seid unbelastet von Nachahmung, vom bloßen Erinnern eines Ideals, das euch nur geistig und emotional verkrüppelt, das Angst und Neid auslöst. Vielleicht dringen diese Worte beim Zuhören tief in euer Unbewusstes. Ich hoffe es, denn dann werdet ihr sehen, welche außerordentliche Verwandlung durch intensives Zuhören und die Freiheit von Nachahmung stattfindet.