Religion ist in Wirklichkeit eine Sache der inneren Bildung – Teil 1

Wir haben über Angst gesprochen; und glaubt ihr nicht, dass das, was wir Religion nennen, in Wirklichkeit das Resultat von Angst ist? Ihr habt ja bestimmt schon mitbekommen, dass eure Eltern, Großeltern oder andere Verwandte in den Tempel oder in die Kirche gehen, eine Statue anbeten, ein paar Sätze aus der Bhagavadgita oder einer anderen heiligen Schrift wiederholen oder irgendein Ritual ausführen. Sie nennen es Religion, wenn sie diese Dinge tun und an etwas glauben. Aber glaubt ihr, dass es so ist? Wenn man in den Tempel oder in die Kirche geht, einer von Menschenhand gefertigten Statue Blumen zu Füßen legt, Tag für Tag und Jahr für Jahr bis zum Tode ein bestimmtes Ritual durchführt – ist das Religion?

Aber wenn die Anbetung einer handgemachten Statue nicht Religion ist, ist dann die Anbetung von etwas, das der Geist erschaffen hat, Religion? Wenn ihr in einen Tempel geht, seht ihr dort eine Figur, die irgendein Bildhauer aus Stein gemeißelt hat. Die Leute legen Blumen vor dieser Darstellung nieder, übergießen sie mit Wasser, kleiden sie. Das nennen sie Religion, und sie sind überzeugt, dass jemand, der das nicht tut, areligiös ist.

Wir haben auch eine Vorstellung von Gott, und diese Vorstellung ist in unserem Geist entstanden, nicht wahr? Die Statue wird vom Geist mit Hilfe der Hände geschaffen, und die Vorstellung von Gott wird vom Geist erzeugt und als etwas Wunderbares beibehalten, etwas, das wie die heilige Figur angebetet wird. Aber sowohl die Vorstellung als auch die Statue werden vom menschlichen Geist erschaffen, nicht wahr? Sie sind ganz offensichtlich nicht Gott, denn der menschliche Geist hat sie ersonnen. In Europa könnt ihr die Skulptur sehen, die einen fast nackten Menschen zeigt, der an ein Kreuz genagelt ist, und dieses Bild wird verehrt. Hier in Indien tun wir dasselbe, nur auf etwas andere Art. Ob in Indien, Europa oder Amerika, wir beten ein Bild an, verehren eine Vorstellung und erschaffen so allmählich etwas, das wir Religion nennen – eine Religion, die eine Erfindung des menschlichen Geistes ist.

Wir haben Angst, allein zu sein, wir wollen, dass jemand da ist, der uns hilft. In eurem Alter wollen wir, dass Mutter, Vater oder Großvater uns helfen, und wenn wir älter werden, wollen wir immer noch, dass uns jemand hilft, denn das Leben ist sehr schwierig. Wir wünschen uns einen verherrlichten Vater, der uns beschützt und uns sagt, was wir tun sollen. Auf Grund unserer Angst vor der Einsamkeit, vor unserer Hilflosigkeit glauben wir an einen Gott, der uns helfen wird, aber es ist dennoch eine Erfindung des Geistes, oder nicht? Weil wir Angst haben und geführt werden wollen, weil wir wollen, dass uns jemand sagt, was richtig und was falsch ist, erschaffen wir uns, wenn wir älter werden, eine Religion, die überhaupt keine ist. Ich glaube, dass Religion etwas ganz anderes ist, und um das Wirkliche zu finden, müssen wir auf jeden Fall frei von dem sein, was der menschliche Geist erfindet. Könnt ihr mir folgen? Um herauszufinden, was Gott ist, um das zu entdecken, was wirklich ist, muss man frei von allen pseudoreligiösen Fallen sein, die der Mensch sich selbst gestellt hat. Ihr könnt das Wirkliche nur entdecken, wenn ihr vollkommen frei von Angst seid, was bedeutet, dass ihr, wenn ihr erwachsen seid und in die Welt hinaus geht, intelligent genug sein müsst, um herauszufinden, wovor ihr Angst habt – ihr müsst es aus der dunklen Kammer eures Innern ans Licht holen und anschauen; ihr dürft nicht davor weglaufen.

Die meisten von uns haben Angst vor dem Alleinsein. Gehen wir je allein spazieren? Sehr selten. Wir wollen immer, dass uns jemand begleitet, weil wir uns unterhalten wollen, wir wollen jemandem etwas erzählen, wir reden und reden und reden. Also sind wir nie allein, nicht wahr? Wenn man älter wird und allein spazieren gehen kann, entdeckt man eine Menge. Man entdeckt die eigene Denkweise, und dann beginnt man zu beobachten, was um einen herum ist: den Bettler, den Dummen, den Klugen, den Reichen und den Armen; man nimmt die Bäume wahr, die Vögel, das Sonnenlicht auf einem Blatt. All das sieht man, wenn man allein hinausgeht. Beim Alleinsein merkt man auch bald, dass man Angst hat. Und weil wir Angst haben, haben wir etwas erfunden, das wir Religion nennen.

Es wurden viele Bücher über Gott geschrieben und darüber, was man tun soll, um ihm nahe zu sein, aber all das beruht auf Angst. Solange man Angst hat, kann man nichts Wirkliches finden. Wenn ihr Angst vor der Dunkelheit habt, traut ihr euch nicht nach draußen, also zieht ihr die Decke über den Kopf und schlaft. Um hinauszugehen und zu schauen, um herauszufinden, was wirklich ist, muss man frei von Angst sein, nicht wahr? Aber es ist sehr schwer, frei von Angst zu sein. Die meisten Erwachsenen sagen, man könne erst frei sein, wenn man älter ist, wenn man Wissen erworben, Erfahrungen gesammelt und gelernt hat, den eigenen Verstand zu kontrollieren. Sie glauben, Freiheit sei etwas weit Entferntes, das man erst am Ende und nicht am Anfang des Lebens haben kann. Aber man muss von klein auf Freiheit haben, sonst ist man nie frei.

Die älteren Leute, die selbst Angst haben, disziplinieren euch, sie sagen euch, was richtig und was falsch ist. Sie sagen euch, dass ihr dies tun sollt und das nicht, dass ihr daran denken müsst, »was die Leute sagen« und so weiter. Man versucht, euch mit allen möglichen Formen von Kontrolle in eine Form zu pressen, in einen Rahmen, ein Schema, und das wird dann Disziplin genannt. Und weil ihr sehr jung seid und selbst Angst habt, fügt ihr euch, aber das hilft euch nicht, denn wenn ihr euch nur einfügt, versteht ihr überhaupt nichts.

Betrachtet es einmal von der anderen Seite. Würdet ihr machen, was ihr wollt, wenn man euch nicht disziplinierte, nicht kontrollierte und klein hielte? Würdet ihr tun, was euch beliebt, wenn niemand da wäre, der euch sagt, was ihr zu tun habt? Jetzt würdet ihr es vielleicht tun, weil ihr daran gewöhnt seid, dass man euch zwingt, unten hält, in eine Form presst, und als Reaktion darauf würdet ihr genau das Gegenteil tun. Aber nehmt einmal an, der Lehrer würde euch von klein auf, vom ersten Schultag an, alles erklären und alles mit euch besprechen und euch nicht sagen, was ihr tun sollt – wie würdet ihr dann reagieren? Wenn euch der Lehrer vom ersten Schultag an erklärte, dass man von Anfang an frei sein muss, und nicht erst am Schluss, kurz vor dem Tod, was würde dann passieren?