Angst blockiert den schöpferischen Unternehmungsgeist – Teil 1

Wir haben uns mit dem Problem der Angst beschäftigt. Wir haben gesehen, dass die meisten von uns Angst haben und dass Angst die Fähigkeit blockiert, aus eigenem Empfinden zu handeln, weil sie uns dazu bringt, uns an Menschen und Dingen festzuklammern wie eine Kletterpflanze an einen Baum. Wir klammern uns an unsere Eltern, unsere Ehemänner, unsere Söhne, unsere Töchter, unsere Ehefrauen und unseren Besitz. Das ist die äußere Form der Angst. Da wir die Angst in uns spüren, fürchten wir uns, allein dazustehen. Vielleicht besitzen wir viele schöne Kleider, eine Menge Schmuck oder andere Dinge, aber innerlich, seelisch sind wir sehr arm. Und je ärmer wir innerlich sind, desto mehr versuchen wir, uns äußerlich zu bereichern, indem wir uns an Menschen, Titel oder Besitz klammern.

Wenn wir Angst haben, klammern wir uns nicht nur an äußere Dinge, sondern auch an ideelle, wie beispielsweise Traditionen. Für die meisten alten Leute und für Menschen, die sich unzulänglich und leer fühlen, hat Tradition eine große Bedeutung. Habt ihr das schon einmal bei euren Freunden, Eltern oder Lehrern festgestellt? Habt ihr es bei euch selbst bemerkt? In dem Augenblick, wo Angst da ist, innere Angst, versucht ihr sie mit dem Mantel der Ehrbarkeit zuzudecken, indem ihr einer Tradition folgt. Und so verliert ihr den schöpferischen Unternehmungsgeist. Da ihr keine Fähigkeit mehr besitzt, aus eigenem Empfinden Neues zu schaffen und nur anderen folgt, wird die Tradition zu etwas sehr Wichtigem – die Tradition dessen, was die Leute sagen, die Tradition, die aus der Vergangenheit überliefert wurde, die Tradition, die keine Lebendigkeit und Freude am Leben in sich trägt, da sie lediglich eine sinnentleerte Wiederholung ist.

Wenn man Angst hat, neigt man zur Nachahmung. Habt ihr das schon einmal bemerkt? Menschen, die Angst haben, imitieren andere, sie kleben an der Tradition, an ihren Eltern, ihren Frauen, ihren Brüdern, ihren Männern. Und Nachahmung zerstört die Fähigkeit zu schöpferischem Tun aus eigenem Empfinden. Wenn ihr einen Baum zeichnet oder malt, bildet ihr ihn nicht nach, ihr kopiert ihn nicht exakt, wie er ist, das wäre bloße Fotografie. Um einen Baum oder eine Blume oder einen Sonnenuntergang ganz frei malen zu können, muss man wahrnehmen, was er einem sagt, man muss seine Bedeutung erfassen. Das ist sehr wichtig: zu versuchen, die Bedeutung dessen, was man sieht, wiederzugeben und es nicht einfach zu kopieren, denn dann setzt man den kreativen Prozess in Gang. Und dazu braucht man einen freien Geist, einen Geist, der unbelastet von Tradition und Nachahmung ist. Aber schaut euch euer eigenes Leben und das Leben der Menschen in eurer Umgebung an – wie traditionsgebunden es ist, wie sehr es auf Nachahmung beruht!

In manchen Dingen seid ihr zur Nachahmung gezwungen, beispielsweise in der Art, wie ihr euch kleidet, bei der Auswahl eurer Lektüre oder im Hinblick auf eure Muttersprache. Das sind alles Formen der Imitation. Aber es ist notwendig, über diese Ebene hinauszugehen und innerlich so frei zu werden, dass man die Dinge selbst untersucht und nicht gedankenlos akzeptiert, was jemand anders sagt. Es spielt keine Rolle, wer es ist – ein Lehrer in der Schule, ein Elternteil oder einer der großen religiösen Lehrer. Es ist sehr wichtig, sich seine eigenen Gedanken zu machen und nicht einfach jemandem zu folgen, weil bloße Gefolgschaft ein Zeichen für Angst ist, nicht wahr? In dem Moment, in dem euch jemand etwas anbietet, das ihr euch wünscht – das Paradies, den Himmel oder einen besseren Job –, steigt die Angst hoch, es nicht zu bekommen. Deshalb fangt ihr an, zu akzeptieren, zu folgen. Solange ihr etwas wollt, muss zwangsläufig Angst da sein, und Angst verkrüppelt den Geist, sie hindert euch daran, frei zu sein.

Wisst ihr, was ein freier Geist ist? Habt ihr jemals euren eigenen Geist beobachtet? Er ist nicht frei, nicht wahr? Ihr achtet ständig drauf, was eure Freunde über euch sagen. Euer Geist ist wie ein Haus, das von einem Zaun oder von Stacheldraht umgeben ist. In diesem Zustand kann nichts Neues geschehen. Etwas Neues kann nur geschehen, wenn keine Angst da ist. Und es ist extrem schwierig für den Geist, frei von Angst, das heißt wirklich vollkommen frei von dem Wunsch zu sein, andere zu imitieren, anderen zu folgen, frei von dem Wunsch, ein Vermögen anzuhäufen oder sich einer Tradition gemäß zu verhalten – was nicht bedeutet, dass man etwas Unverschämtes oder Abscheuliches tut.

Freiheit des Geistes ist nur möglich, wenn keine Angst da ist, wenn der Geist nicht prahlen will und sich nicht für Status oder Prestige verbiegt. Dann hat er kein Interesse an Nachahmung. Und es ist wichtig, einen solchen Geist zu haben – einen, der wirklich frei von Tradition ist, denn sie ist der Mechanismus, der die geistigen Muster prägt.

Erscheint euch das alles zu schwierig? Ich glaube nicht, dass es so schwierig ist, wie eure Geografie oder Mathematik. Es ist viel einfacher, ihr habt nur noch nie darüber nachgedacht. Ihr verbringt vielleicht 10 oder 15 Jahre eures Lebens in der Schule und erwerbt Wissen, doch ihr nehmt euch nie die Zeit – keine Woche, nicht einmal einen Tag –, um gründlich über eine dieser Fragen nachzudenken. Deshalb erscheint euch all das so schwierig, aber es ist in Wirklichkeit überhaupt nicht schwierig. Im Gegenteil, wenn ihr euch Zeit dafür nehmt, könnt ihr selbst sehen, wie euer Geist funktioniert, wie er reagiert. Und es ist sehr wichtig, dass ihr euren Geist verstehen lernt, solange ihr jung seid, sonst wachst ihr heran und folgt einer Tradition, die ziemlich bedeutungslos ist. Ihr werdet zu Nachahmern und das bedeutet nichts anderes, als die Angst zu nähren. Dann werdet ihr niemals frei sein.

Habt ihr schon einmal bemerkt, wie traditionsgebunden ihr hier in Indien seid? Ihr müsst auf eine bestimmte Weise heiraten, eure Eltern suchen euren Ehepartner aus. Ihr müsst euch an bestimmte Rituale halten. Sie sind vielleicht völlig bedeutungslos, aber ihr müsst euch daran halten. Ihr habt Führerfiguren, denen ihr folgen müsst. Alles um euch herum spiegelt – vielleicht habt ihr das einmal beobachtet – eine Lebensweise wider, in der Autorität einen festen Platz hat. Da ist die Autorität des Gurus, die Autorität der politischen Gruppe, die Autorität der Eltern und die Autorität der öffentlichen Meinung. Je älter die Zivilisation, desto größer das Gewicht der Tradition mit ihren vielfältigen Vorgaben zur Nachahmung. Solange dieses Gewicht auf eurem Geist lastet, kann er niemals frei sein. Ihr könnt über politische oder irgendeine andere Form der Freiheit reden, aber als Individuum seid ihr nie wirklich frei, um selbst die Wahrheit herauszufinden. Ihr folgt immer: einem Ideal, einem Guru oder Lehrer oder irgendeinem absurden Aberglauben.