Die Qualität echter Zuneigung – Teil 1

Ist es nicht sehr wichtig, dass wir geliebt werden, wenn wir jung sind, und auch wissen, was es heißt zu lieben? Aber mir scheint, dass die meisten von uns nicht lieben, und auch nicht geliebt werden. Ich glaube, dass es ganz wesentlich ist, sich in jungen Jahren ernsthaft mit diesem Problem auseinander zu setzen und es zu verstehen, denn dann sind wir vielleicht sensibel genug, um Liebe zu empfinden, um ihre Qualität, ihren Duft zu kennen, damit sie nicht völlig zerstört wird, wenn wir älter werden. Wir wollen diese Frage genauer betrachten.

Was bedeutet es zu lieben? Ist es ein Ideal, etwas Fernes, Unerreichbares? Oder kann jeder von uns in jedem beliebigen Augenblick des Tages Liebe empfinden? Zuneigung empfinden zu können, Verständnis zu haben, jemandem ohne Motiv zu helfen, spontan freundlich zu sein, sich um eine Pflanze oder einen Hund zu kümmern, den Dorfleuten einfühlend und verständnisvoll zu begegnen, großzügig gegenüber einem Freund, einem Nachbarn zu sein – ist es nicht das, was wir mit Liebe meinen? Ist Liebe nicht ein Zustand, in dem keinerlei Groll da ist, sondern nur Vergebung? Und können wir das nicht empfinden, wenn wir jung sind?

Viele von uns empfinden das, wenn sie jung sind – ein plötzliches Gefühl der Zuneigung zu dem Dorfbewohner, zu einem Hund, zu denjenigen, die klein oder hilflos sind. Und sollte man das nicht ständig pflegen? Solltet ihr nicht täglich einen Teil eurer Zeit darauf verwenden, einander zu helfen, euch um einen Baum oder einen Garten zu kümmern, im Haus oder im Wohnheim zu helfen, so dass ihr, wenn ihr älter werdet, wisst, was es bedeutet, ohne Zwang, ohne Motiv rücksichtsvoll und fürsorglich zu sein? Solltet ihr nicht diese Qualität echter Zuneigung besitzen?

Echte Zuneigung kann man nicht künstlich erzeugen. Man muss sie empfinden, und euer Vormund, eure Eltern, eure Lehrer müssen sie auch empfinden. Die meisten Leute spüren keine echte Zuneigung, sie sind zu sehr mit ihren Ambitionen, Sehnsüchten, ihrem Wissen und ihrem Erfolg beschäftigt. Sie messen dem, was sie getan haben und tun wollen, so ungeheure Bedeutung bei, dass es sie letztendlich zerstört.

Deshalb ist es so wichtig, dass ihr als Kinder und junge Leute helft, die Zimmer in Ordnung zu halten, oder dass ihr euch um ein paar Bäume kümmert, die ihr selbst gepflanzt habt, oder dass ihr einem kranken Freund beisteht, damit ihr Zuneigung, Fürsorglichkeit, Großzügigkeit entwickelt – echte Großzügigkeit, die nicht nur aus dem Verstand kommt und die in euch den Wunsch weckt, mit jemandem zu teilen, was ihr habt, wie wenig es auch sein mag. Wenn ihr dieses Gefühl von Liebe, Großzügigkeit, Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit nicht als junge Leute habt, ist es sehr schwierig, es zu empfinden, wenn ihr älter seid; aber wenn ihr jetzt anfangt, es zu empfinden, dann könnt ihr es vielleicht in anderen wachrufen.

Sympathie und Zuneigung empfinden zu können, setzt Angstfreiheit voraus, nicht wahr? Aber es ist sehr schwer, in dieser Welt ohne Angst aufzuwachsen, ohne persönliche Motive zu handeln. Die älteren Leute haben sich nie mit diesem Problem der Angst auseinander gesetzt oder sie haben es nur abstrakt betrachtet, ohne Bezug zu ihrem täglichen Leben. Ihr seid noch sehr jung, ihr beobachtet, fragt, lernt, aber wenn ihr nicht versteht, wodurch Angst verursacht wird, werdet ihr wie sie. Die Angst wird wachsen und sich ausbreiten wie ein verborgenes Unkraut und euer Denken überwuchern und verbiegen. Deshalb ist es so wichtig, dass ihr bewusst wahrnehmt, was um euch herum und in eurem Innern vor sich geht – wie die Lehrer reden, wie sich eure Eltern verhalten und wie ihr selbst reagiert –, damit ihr seht und versteht, was es mit der Angst auf sich hat.

Die meisten Erwachsenen sind der Meinung, dass irgendeine Art von Disziplin notwendig ist. Wisst ihr, was Disziplin ist? Es ist ein Prozess, bei dem ihr dazu gebracht werdet, etwas zu tun, was ihr nicht tun wollt. Wo Disziplin ist, ist Angst, also ist Disziplin nicht der Weg der Liebe. Deshalb sollte Disziplin um jeden Preis vermieden werden – Disziplin als Druck, Widerstand, Zwang, durch den man euch dazu bringt, etwas zu tun, das ihr nicht versteht, oder euch dazu überredet, indem man euch eine Belohnung verspricht. Wenn ihr etwas nicht versteht, dann tut es nicht, und lasst euch nicht dazu zwingen. Bittet um eine Erklärung, seid nicht einfach widerspenstig, sondern versucht, der betreffenden Sache auf den Grund zu gehen, die Wahrheit herauszufinden, so dass keine Angst im Spiel ist und euer Geist sehr beweglich und flexibel wird.

Wenn ihr nicht versteht, was ihr tut, und nur durch die Autorität der Erwachsenen dazu gezwungen werdet, unterdrückt ihr euren eigenen Geist, und dann entsteht Angst. Und diese Angst folgt euch das ganze Leben wie ein Schatten. Deshalb ist es so wichtig, nicht in Anpassung an ein bestimmtes Denkoder Handlungsmuster diszipliniert zu sein. Aber die meisten älteren Leute können nur in diesen Bahnen denken. Sie wollen euch dazu bringen, etwas zu eurem so genannten Besten zu tun. Aber genau dadurch, dass man euch dazu bringt, etwas zu eurem »Besten« zu tun, wird eure Sensibilität, eure Fähigkeit, zu verstehen, und damit eure Liebe zerstört. Es ist sehr schwer, sich solcher Nötigung, solchem Zwang zu verweigern, denn die Welt um uns herum ist so stark. Aber wenn wir einfach nachgeben und Dinge tun, ohne sie zu verstehen, verfallen wir in die Gewohnheit der Gedankenlosigkeit und dann wird es noch schwieriger, sich zu befreien.

Sollte es in eurer Schule also Autorität, Disziplin geben? Oder sollten euch eure Lehrer ermutigen, diese Fragen zu diskutieren, ihnen auf den Grund zu gehen, sie zu verstehen, so dass ihr später als reife Menschen in die Welt hinausgeht, als Erwachsene, die in der Lage sind, den Problemen dieser Welt intelligent zu begegnen. Diese hohe Intelligenz könnt ihr aber nicht haben, wenn irgendeine Angst in euch ist. Angst lässt euch nur abstumpfen, blockiert eure Kreativität und Spontaneität und erstickt die Flamme, die wir Sympathie, Großzügigkeit, Zuneigung und Liebe nennen. Lasst euch also nicht in ein Handlungsschema hinein disziplinieren, sondern entdeckt die Dinge für euch selbst. Und das bedeutet, dass ihr die Zeit haben müsst, um Fragen zu stellen, zu forschen, und die Lehrer müssen ebenfalls Zeit dafür haben. Wenn keine Zeit da ist, muss man sich die Zeit eben nehmen. Angst ist eine Quelle der Korruption, der Beginn des Niedergangs; frei von Angst zu sein ist wichtiger als jede Prüfung und jeder akademische Grad.