Wie wichtig es ist, den eigenen Geist zu verstehen – Teil 1

Ich glaube nicht, dass wir die komplexe Frage, was Liebe ist, verstehen können, bevor wir nicht das ebenso vielschichtige Problem, das wir Geist nennen, verstanden haben. Habt ihr schon einmal bemerkt, wie neugierig Kinder sind? Als Kinder wollen wir alles wissen und sehen viel mehr Dinge als die Erwachsenen. Wenn wir nur ein bisschen wach sind, beobachten wir Dinge, die die Älteren überhaupt nicht wahrnehmen. In unserer Jugend ist der Geist viel wacher, viel neugieriger und will alles wissen. Deshalb fällt es uns so leicht, Mathematik oder Erdkunde zu lernen. Wenn wir dann älter werden, erstarrt der Geist immer mehr, er wird schwerfällig und abgestumpft. Habt ihr schon einmal bemerkt, wie voreingenommen die meisten älteren Leute sind? Sie haben keinen offenen Geist und gehen an alles mit festen Vorstellungen heran. Ihr seid jung, aber wenn ihr nicht Acht gebt, entwickelt sich euer Geist in dieselbe Richtung.

Ist es also nicht sehr wichtig, den Geist zu verstehen und zu sehen, ob ihr, anstatt allmählich abzustumpfen, geistig beweglich sein könnt – fähig zu unmittelbarer Anpassung an die Situation, zu spontanem Handeln, gründlichem Forschen und Verstehen in jedem Bereich des Lebens? Müsst ihr nicht die Mechanismen des Denkens und Fühlens kennen, um zu verstehen, was Liebe ist? Denn es ist der Geist, das Denken, das die Liebe zerstört. Menschen, die nur schlau und gerissen sind, wissen nicht, was Liebe ist, denn ihr Geist ist zwar scharf, aber oberflächlich; sie leben an der Oberfläche, und Liebe bleibt nicht an der Oberfläche.

Was ist der menschliche Geist? Ich meine nicht bloß das Gehirn, nicht den physischen Organismus, der über verschiedene Reflexe der Nerven auf bestimmte Reize reagiert und den euch jeder Physiologe beschreiben kann. Wir werden hier eher untersuchen, was der Geist ist. Der Geist, der sagt: »Ich denke«, »das gehört mir«, »ich bin verletzt«, »ich bin eifersüchtig«, »ich liebe«, »ich hasse«, »ich bin Inder«, »ich bin Moslem«, »ich glaube an dies und nicht an das«, »ich weiß und du weißt nicht«, »ich respektiere«, »ich verachte«, »ich will«, »ich will nicht« – was ist dies für ein Phänomen? Wenn ihr nicht jetzt anfangt, den gesamten Prozess des Denkens, den wir Geist nennen, zu verstehen und euch gründlich damit vertraut zu machen, wenn ihr euch dieses Prozesses nicht in euch selbst voll bewusst seid, werdet ihr mit zunehmendem Alter allmählich immer verhärteter, erstarrter, abgestumpfter und fixierter in bestimmten Denkmustern.

Was ist dieses Phänomen, das wir »Geist« nennen? Es ist unsere Art zu denken, nicht wahr? Ich spreche von eurem Geist, nicht von dem anderer Leute – von eurer Art zu denken und zu fühlen, die Bäume, den Fischer, den Dorfbewohner zu betrachten. Wenn ihr älter werdet, erstarrt euer Geist allmählich in einem bestimmten Denkmuster. Ihr wollt etwas, ihr verlangt danach, ihr wollt etwas sein oder werden, und dieses Verlangen erzeugt ein Muster, das heißt, euer Geist erschafft ein Muster und verfängt sich darin. Euer Wunsch, euer Verlangen lässt euren Geist erstarren.

Nehmen wir beispielsweise an, ihr wollt sehr reich werden. Der Wunsch, wohlhabend zu sein, erzeugt ein Muster, und euer Denken bleibt darin hängen; ihr könnt die Dinge nur noch aus dieser Perspektive sehen und nicht darüber hinausgehen. Deshalb erstarrt euer Geist allmählich, er verhärtet, stumpft ab. Wenn ihr an etwas glaubt – an Gott, den Kommunismus, an ein bestimmtes politisches System –, erzeugt dieser Glaube das Muster, weil er das Produkt eures Wunsches ist, und euer Wunsch festigt die Mauern des Denkmusters. So wird euer Geist allmählich unfähig zu schnellem Schalten, tiefem Erkennen, echter Klarheit, weil ihr im Labyrinth eurer eigenen Wünsche gefangen seid.

Solange wir also nicht anfangen, diesen Mechanismus, den wir Geist nennen, zu untersuchen, solange wir mit unseren eigenen Denkmustern nicht vertraut sind und sie nicht verstehen, können wir nicht herausfinden, was Liebe ist. Liebe kann nicht existieren, solange unser Geist sich von ihr bestimmte Dinge wünscht oder verlangt, dass sie sich auf eine bestimmte Weise verhält. Wenn wir uns vorstellen, was Liebe sein sollte, und sie mit bestimmten Motiven verknüpfen, erzeugen wir allmählich ein bestimmtes Handlungsmuster; aber das ist keine Liebe, es ist nur unsere Vorstellung davon, wie Liebe sein sollte.

Nehmen wir beispielsweise an, ich besitze meine Frau oder meinen Mann wie ich ein Kleid oder einen Mantel besitze. Würde euch jemand euren Mantel wegnehmen, wärt ihr aufgebracht, irritiert, wütend. Warum? Weil ihr diesen Mantel als euer Eigentum betrachtet; ihr besitzt ihn und fühlt euch bereichert durch diesen Besitz, nicht wahr? Durch den Besitz vieler Kleidungsstücke fühlt ihr euch bereichert – und zwar nicht nur physisch, sondern auch innerlich –, und wenn euch jemand euren Mantel wegnimmt, seid ihr irritiert, weil euch dann das Gefühl des Reichseins, des Besitzens genommen wird.

Aber im Hinblick auf die Liebe wird dieses Gefühl des Besitzens zum Hindernis, nicht wahr? Ist es Liebe, wenn du mein Eigentum bist, wenn ich dich besitze? Ich besitze dich, wie ich ein Auto, einen Mantel, ein Kleid besitze, weil das Gefühl des Besitzens mich sehr befriedigt und ich von diesem Gefühl abhängig bin; es ist sehr wichtig für mich. Dieses Gefühl, einen Menschen zu besitzen, diese gegenseitige emotionale Abhängigkeit nennen wir Liebe; aber wenn ihr es genau untersucht, werdet ihr feststellen, dass hinter dem Wort »Liebe« die innere Befriedigung des Besitzens steckt. Denn wenn wir eine Menge Kleider, ein teures Auto, eine großes Haus besitzen, verschafft uns das Gefühl, dass das alles uns gehört, große innere Genugtuung.