Was ist Liebe? – Teil 1

Wir haben viel über Angst gesprochen, weil sie ein sehr mächtiger Einfluss in unserem Leben ist. Nun wollen wir eine Weile über die Liebe sprechen; lasst uns herausfinden, ob hinter diesem Wort und diesem Gefühl – das für uns alle so große Bedeutung hat – auch diese seltsame Unruhe und Anspannung steckt, die die Erwachsenen Einsamkeit nennen.

Wisst ihr, was Liebe ist? Liebt ihr euren Vater, eure Mutter, euren Bruder, euren Lehrer, euren Freund? Wisst ihr, was es bedeutet zu lieben? Was bedeutet es, wenn ihr sagt, dass ihr eure Eltern liebt? Ihr fühlt euch bei ihnen sicher, ihr fühlt euch bei ihnen zu Hause. Eure Eltern beschützen euch, sie geben euch Geld, ein Dach über dem Kopf, Nahrung und Kleidung, und ihr spürt eine enge Verbundenheit mit ihnen, nicht wahr? Ihr habt das Gefühl, dass ihr ihnen vertrauen könnt – oder auch nicht. Wahrscheinlich sprecht ihr mit ihnen nicht so unbefangen und locker wie mit euren Freunden. Aber ihr respektiert sie, werdet von ihnen geführt, ihr gehorcht ihnen und verspürt ihnen gegenüber ein gewisses Verantwortungsgefühl, das Gefühl, dass ihr für sie sorgen müsst, wenn sie einmal alt sind. Und sie lieben euch, sie wollen euch beschützen, führen, helfen – zumindest sagen sie das. Sie wollen euch verheiraten, damit ihr ein so genanntes moralisches Leben führt und keine Probleme bekommt, damit ihr einen Ehemann habt, der für euch sorgt, oder eine Ehefrau, die für euch kocht und eure Kinder gebiert. All das wird Liebe genannt, nicht wahr?

Wir können nicht auf Anhieb sagen, was Liebe ist, weil man Liebe nicht leicht mit Worten ausdrücken kann. Sie zu verstehen fällt uns nicht leicht. Aber ohne Liebe ist das Leben sehr arm; ohne Liebe haben die Bäume und die Vögel, das Lächeln eines Mannes oder einer Frau, die Brücke über den Fluss, die Bootsleute und die Tiere keine Bedeutung. Ohne Liebe ist das Leben wie ein seichtes Gewässer. In einem tiefen Fluss herrscht Vielfalt, dort können viele Fische leben, aber der flache Teich wird bald von der Sonne ausgetrocknet, und es bleibt nichts zurück außer Schlamm und Schmutz.

Für die meisten von uns ist Liebe eine außerordentlich schwierige Angelegenheit, denn unser Leben ist sehr seicht, sehr oberflächlich. Wir wollen geliebt werden, und wir wollen lieben, aber hinter diesem Wort lauert Angst. Ist es also nicht für jeden von uns sehr wichtig, herauszufinden, was es mit diesem außerordentlichen Phänomen wirklich auf sich hat? Und das können wir nur herausfinden, wenn uns bewusst ist, wie wir andere Menschen betrachten, wie wir die Bäume, die Tiere, einen Fremden, einen hungernden Menschen anschauen. Uns muss bewusst sein, wie wir unsere Freunde betrachten, unseren Guru, falls wir einen haben, wie wir unsere Eltern betrachten.

Was bedeutet es, wenn wir sagen: »Ich liebe meinen Vater und meine Mutter, ich liebe meinen Beschützer, meinen Lehrer.« Ist es Liebe, wenn wir jemanden sehr respektieren und zu ihm aufschauen, wenn wir das Gefühl haben, dass es unsere Pflicht ist, ihm zu gehorchen und er wiederum unseren Gehorsam erwartet? Hat Liebe etwas mit Ängsten und Befürchtungen zu tun? Wenn du zu jemandem aufschaust, dann schaust du mit Sicherheit auch auf jemanden herab, nicht wahr? Ist das Liebe? Ist Liebe mit dem Gefühl verbunden, zu jemandem aufzuschauen oder auf jemanden herabzuschauen, oder mit dem Zwang, jemandem zu gehorchen?

Wenn wir sagen, dass wir jemanden lieben, ist es dann nicht so, dass wir von diesem Menschen innerlich abhängig sind? Ein Kind ist natürlich abhängig von seinem Vater, seiner Mutter, seinem Lehrer, seinem Beschützer. Es muss versorgt werden, es braucht Nahrung, Kleidung, ein Dach über dem Kopf. Es braucht ein Gefühl der Sicherheit, das Gefühl, dass sich jemand um es kümmert.

Aber was passiert normalerweise? Wenn wir älter werden, bleibt dieses Abhängigkeitsgefühl bestehen, nicht wahr? Habt ihr es nicht auch schon bei älteren Leuten, bei euren Eltern und Lehrern bemerkt? Habt ihr nicht bemerkt, dass sie emotional abhängig von ihren Ehefrauen oder Männern, ihren Kindern oder ihren eigenen Eltern sind? Auch wenn sie erwachsen sind, klammern sich die meisten Menschen noch an irgendjemanden; sie bleiben abhängig. Ohne jemanden, an den sie sich anlehnen können, der ihnen ein Gefühl des Trostes und der Sicherheit gibt, fühlen sie sich einsam, nicht wahr? Sie fühlen sich verloren. Diese gegenseitige Abhängigkeit wird Liebe genannt. Aber wenn ihr euch das einmal ganz genau anschaut, werdet ihr erkennen, dass Abhängigkeit Angst ist und nicht Liebe.

Die meisten Menschen haben Angst davor, allein dazustehen, auf eigenen Beinen zu stehen. Sie haben Angst davor, die Dinge allein zu betrachten, ihnen gefühlsmäßig auf den Grund zu gehen, den Sinn des Lebens zu erforschen und zu entdecken. Deshalb sagen sie, dass sie Gott lieben, und sie sind abhängig von dem, was sie Gott nennen; aber es ist nicht Gott, das Unbekannte, sondern ein Produkt des menschlichen Geistes.

Dasselbe machen wir mit einem Ideal oder einem Glaubenssystem. Ich glaube an etwas oder halte an einem Ideal fest, und das gibt mir ein sehr tröstliches Gefühl; aber wenn man mir das Ideal oder den Glauben nimmt, bin ich verloren. Mit einem Guru ist es dasselbe. Ich bin abhängig, weil ich etwas haben will, also ist da der Stachel der Angst. Und so ist es auch mit der Abhängigkeit von unseren Eltern und Lehrern. Es ist ganz natürlich und richtig, von ihnen abhängig zu sein, wenn man jung ist, aber wenn man als Erwachsener immer noch von ihnen abhängt, ist man unfähig, selbstständig zu denken und frei zu sein. Wo Abhängigkeit ist, ist immer auch Angst, und wo Angst ist, ist Autorität; da ist keine Liebe. Wenn eure Eltern sagen, dass ihr gehorchen müsst, dass ihr bestimmten Traditionen folgen müsst, dass ihr nur einen ganz bestimmten Beruf ergreifen oder nur eine bestimmte Art von Arbeit machen sollt – dann hat all das nichts mit Liebe zu tun. Und es ist auch keine Liebe in euren Herzen, wenn ihr von der Gesellschaft auf eine Weise abhängig seid, dass ihr ihre Struktur akzeptiert, wie sie ist, ohne die Dinge zu hinterfragen.