Was ist Neid? – Teil 1

Die Desintegration, die innere Zerstörung des Menschen hat verschiedene Ursachen und findet auf unterschiedliche Arten statt. Integrieren bedeutet zu einem Ganzen »zusammenfügen«, »vervollständigen«. Wenn ihr eine Ganzheit seid, sind eure Gedanken, Gefühle und Handlungen eins, sie gehen in dieselbe Richtung und stehen nicht im Widerstreit miteinander. Ihr seid dann ein vollständiges menschliches Wesen ohne inneren Konflikt. Das ist mit Integration gemeint. Desintegration ist das Gegenteil. Es bedeutet innerlich in Stücke zu gehen, zerrissen zu werden, es ist die Auflösung dessen, was zusammengefügt worden ist. Und es gibt viele Möglichkeiten, durch die Menschen zerrüttet werden, in Stücke gehen, sich zerstören. Ich glaube, einer der Hauptfaktoren ist dabei der Neid, der so subtil daherkommt, dass er, unter verschiedenen anderen Namen, als lohnend und nützlich betrachtet wird, als lobenswertes Element des menschlichen Strebens.

Wisst ihr, was Neid ist? Er macht sich schon in ganz jungen Jahren bemerkbar: Ihr seid neidisch auf einen Freund, der besser aussieht, bessere Sachen hat oder angesehener und beliebter ist als ihr. Ihr seid eifersüchtig, wenn euch ein anderes Mädchen oder ein Junge in der Klasse überflügelt, reichere Eltern hat oder aus einer vornehmeren Familie kommt. Neid und Eifersucht beginnen also schon im zartesten Alter und nehmen allmählich die Form von Konkurrenz an. Ihr wollt etwas tun, um euch abzuheben – bessere Noten bekommen, ein besserer Sportler sein als andere, ihr wollt andere ausstechen, in den Schatten stellen.

Wenn ihr älter werdet, wird der Neid immer stärker. Die Armen beneiden die Reichen, und die Reichen beneiden die Superreichen. Da ist der Neid derjenigen, die etwas erlebt haben und noch mehr erleben wollen, und der Neid des Schriftstellers, der noch besser schreiben können will. Der Wunsch, besser zu sein, etwas zu werden, was der Mühe wert ist, mehr von diesem oder jenem zu haben, ist nichts anderes als Habgier, es ist ein Prozess des Ansammelns und Festhaltens. Wenn ihr das genauer beobachtet, werdet ihr feststellen, dass die meisten von uns instinktiv dazu neigen, Dinge zu horten, mehr Kleider, mehr Häuser, mehr Land besitzen zu wollen. Und wenn es nicht das ist, dann wollen wir mehr Erfahrung, mehr Wissen besitzen, wir wollen das Gefühl haben, dass wir mehr wissen als alle anderen, dass wir viel belesener sind als andere. Wir wollen irgendeinem Politiker, der eine hohe Position in der Regierung innehat, näher stehen als andere; oder wir wollen das Gefühl haben, dass wir spirituell weiter entwickelt sind. Wir wollen in dem Bewusstsein leben, dass wir demütig und tugendhaft sind oder dass wir in der Lage sind, Dinge zu erklären, die andere nicht erklären können.

Je mehr wir also horten, desto stärker ist unsere Zerrissenheit. Und je mehr Besitz, Ruhm, Erfahrung und Wissen wir ansammeln, desto schneller schreitet unser Verfall fort. Dem Wunsch, mehr zu sein oder zu haben, entspringt die universale Krankheit der Eifersucht, des Neids. Habt ihr das nicht schon bei euch selbst und bei den älteren Leuten beobachtet? Habt ihr nicht schon mitbekommen, wie gerne der Lehrer Professor wäre und der Professor Rektor? Oder, dass euer Vater oder eure Mutter mehr besitzen will, angesehener sein will?

Doch dieser Kampf, etwas zu sein und zu haben, macht uns grausam. Habgier kennt keine Liebe. Die hortende Lebensweise ist eine ununterbrochene Schlacht mit dem Nachbarn oder mit der Gesellschaft und geht mit ständiger Angst einher; aber wir rechtfertigen das alles und akzeptieren Eifersucht als etwas Unvermeidliches. Wir glauben, wir müssten habgierig sein, auch wenn wir besser klingende Wörter dafür benutzen. Wir nennen es Evolution, Wachstum, Entwicklung, Fortschritt und behaupten, es sei etwas Unverzichtbares.

Die meisten von uns sind sich all dessen nicht bewusst; wir nehmen nicht bewusst wahr, dass wir habgierig sind, dass wir horten, dass unser Herz von Neid zerfressen ist, dass unser Geist verkrüppelt wird. Und wenn wir es für einen Moment doch wahrnehmen, rechtfertigen wir es oder sagen einfach, dass es nicht stimmt, oder versuchen auf die eine oder andere Art davor wegzulaufen.

Es ist sehr schwer, den Neid in sich selbst zu entdecken oder aufzudecken, weil der Geist ja die Quelle des Neids ist. Der Geist an sich ist neidisch. Das Horten und der Neid bilden die Grundstruktur des menschlichen Geistes. Wenn ihr eure eigenen Gedanken, eure Denkweise beobachtet, werdet ihr feststellen, dass das, was wir Denken nennen, im Allgemeinen ein Vergleichen ist: »Ich kann besser erklären, ich besitze mehr Wissen, mehr Weisheit.« Im Sinne von »mehr« zu denken liegt in der Natur des hortenden Geistes, es ist seine Seinsweise. Wenn man nicht im Sinne von »mehr« denkt, wird man es äußerst schwierig finden, überhaupt zu denken. Das Streben nach »mehr« ist die vergleichende Funktion des Denkens, welches die Zeit erschafft – die Zeit, in der wir etwas werden können, jemand sein können. Es ist der Prozess des Hortens, des Neids. Der in Vergleichen denkende Geist sagt: »Ich bin dies und eines Tages werde ich jenes sein.« »Ich bin hässlich, aber irgendwann werde ich schön sein.« Die Habgier, der Neid, das vergleichende Denken lösen also Unzufriedenheit, innere Unruhe aus, und wir reagieren darauf, indem wir sagen, wir müssen zufrieden sein, mit dem, was wir haben. Das sagen die Leute, die auf der obersten Sprosse der Leiter angekommen sind. Und alle Religionen predigen Zufriedenheit.

Echte Zufriedenheit ist keine Reaktion, ist nicht das Gegenteil von Habgier, sondern etwas viel Umfassenderes und Bedeutungsvolleres. Der Mensch, dessen Zufriedenheit das Gegenteil von Habgier, von Neid ist, vegetiert nur noch dahin; er ist innerlich tot, wie die meisten Menschen. Die meisten Menschen sind sehr ruhig, weil sie innerlich tot sind, und sie sind innerlich tot, weil sie das Gegenteil kultiviert haben – das Gegenteil von allem, was sie wirklich sind. Sie sind neidisch und sagen: »Ich darf nicht neidisch sein.« Man kann den ewigen inneren Kampf des Neids verleugnen, indem man ein Lendentuch trägt und behauptet, man wolle nichts haben, aber genau dieser Wunsch, gut zu sein, nicht habgierig zu sein, der ja das Gegenteil anstrebt, spielt sich immer noch innerhalb der Zeit ab; es gehört immer noch zum Gefühl des Neids, weil man immer noch etwas sein will. Echte Zufriedenheit ist etwas anderes, etwas viel Kreativeres und Tieferes. Es kann keine Zufriedenheit sein, wenn man sich entscheidet, zufrieden zu sein. So entsteht keine Zufriedenheit. Zufriedenheit entsteht, wenn man versteht, was man wirklich ist, und nicht nach etwas strebt, das man sein sollte.