Worum geht es im Leben überhaupt? – Teil 1

Die meisten von uns sind als Kinder noch recht unbelastet von den Konflikten des Lebens, von den Sorgen, flüchtigen Freuden, physischen Gebrechen, der Furcht vor dem Tod und der mentalen Verwirrung, die die ältere Generation beeinträchtigen. Glücklicherweise befinden sich die meisten von uns in ihrer Jugend noch nicht auf dem Schlachtfeld des Lebens. Aber wenn wir älter werden, häufen sich die Probleme, Leiden und Zweifel, die wirtschaftlichen Zwänge und inneren Kämpfe, und dann wollen wir wissen, was für einen Sinn das Leben hat, worum es im Leben überhaupt geht. Wir Fragen uns, was es mit diesen ganzen Konflikten, den Schmerzen, der Armut, den Katastrophen überhaupt auf sich hat. Wir fragen uns, wieso manche Menschen gut situiert sind und andere nicht, warum ein Mensch gesund, intelligent, begabt und fähig ist, während ein anderer all das nicht ist. Und wenn wir leicht zufrieden zu stellen sind, bleiben wir schnell in einer Hypothese, Theorie oder einem Glaubenssystem hängen; wir finden eine Antwort, aber es wird nie die richtige Antwort sein. Wir stellen fest, dass das Leben hässlich, schmerzhaft, leidvoll ist, und machen uns auf die Suche nach Antworten, aber weil wir nicht genug Selbstvertrauen, Kraft, Intelligenz und Lauterkeit besitzen, um den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen, verlieren wir uns schnell in Theorien, Glaubenssystemen, in irgendwelchen Spekulationen oder Doktrinen, die all das befriedigend erklären. Nach und nach werden unsere Dogmen zu tief verwurzelten, unerschütterlichen Überzeugungen, weil hinter ihnen die ständige Angst vor dem Unbekannten lauert. Wir schauen uns diese Angst nie an, sondern wenden uns von ihr ab und suchen Zuflucht in unseren Glaubenssystemen. Und wenn wir diese Glaubenssysteme untersuchen – die hinduistischen, buddhistischen, christlichen –, stellen wir fest, dass sie die Menschen voneinander trennen. Alle Dogmen und Glaubenssysteme sind mit einer Reihe von Ritualen und Zwängen verbunden, die den Geist binden und einen Menschen vom nächsten trennen.

Wir beginnen also mit einer Untersuchung, um herauszufinden, was wahr ist, was für eine Bedeutung das ganze Elend, dieser Lebenskampf, dieser Schmerz haben, und enden bei einer Sammlung von Überzeugungen, Ritualen und Theorien. Wir haben weder das Selbstvertrauen noch die Kraft und die Lauterkeit, um den Glauben beiseite zu schieben und der Sache auf den Grund zu gehen; und deshalb wird der Glaube allmählich zu einem zerstörerischen Faktor in unserem Leben.

Glaubenssysteme korrumpieren, weil hinter den Glaubensinhalten und der idealistischen Moral das »Ich«, das Selbst lauert – jenes Selbst, das sich immer mehr aufbläht, immer mächtiger wird. Wir meinen, der Glaube an Gott sei Religion. Wir betrachten es als religiös, wenn jemand glaubt. Wenn du nicht gläubig bist, wird man dich als Atheist betrachten und die gesellschaftliche Ächtung ist dir gewiss. Eine Gesellschaft ächtet diejenigen, die nicht an Gott glauben, und eine andere ächtet die, die es tun. Sie unterscheiden sich kein bisschen voneinander.

Religion wird also zu einer Sache des Glaubens, und Glauben schränkt den Geist ein, der Geist ist dann nie frei. Aber nur in Freiheit könnt ihr herausfinden, was wahr ist, was Gott ist, und nicht durch irgendeinen Glauben, denn euer Glaube ist eine Projektion dessen, was Gott eurer Meinung nach sein sollte, was eurer Meinung nach wahr sein sollte. Wenn ihr glaubt, dass Gott Liebe ist, dass Gott gut ist, dass Gott dies oder jenes ist, dann hindert euer Glaube euch daran zu verstehen, was Gott in Wahrheit ist, was wahr ist. Aber ihr wollt euch in einem Glauben verlieren, wollt euch opfern, wollt andere nachahmen, um diesem ständigen inneren Kampf zu entkommen und tugendhaft zu werden.

Euer Leben ist ein ständiger Kampf, geprägt von Trauer und Leid, Ehrgeiz, vergänglichen Freuden und einem Glück, das kommt und geht. Also wünscht sich euer Geist etwas Großes, an das er sich klammern kann, etwas jenseits seiner selbst, mit dem er sich identifizieren kann. Und dieses Etwas nennt der Geist dann Gott oder Wahrheit, und er identifiziert sich damit durch Glauben, durch Überzeugung, durch Rationalisierung, durch verschiedene Formen der Disziplin und idealistische Moral. Aber dieses unfassbare Etwas, das Anlass zu Spekulationen gibt, ist immer noch Teil des »Ich«, es ist eine Projektion des menschlichen Geistes, der aus dem Chaos des Lebens flüchten will.

Wir identifizieren uns mit einem bestimmten Land – Indien, England, Deutschland, Russland, Amerika. Ihr betrachtet euch als Hindus. Warum? Warum identifiziert ihr euch mit Indien? Habt ihr euch das je angeschaut, habt ihr je hinter die Wörter geblickt, die euren Geist einschränken? Ihr lebt in einer Großstadt oder einer Kleinstadt, ihr führt ein bedauernswertes Leben mit all euren Kämpfen und familiären Streitigkeiten, seid unzufrieden und unglücklich und identifiziert euch mit einem Land, das Indien genannt wird. Das gibt euch ein Gefühl von Größe, von Wichtigkeit, eine innere Befriedigung, also sagt ihr: »Ich bin Inder«, und ihr seid bereit, dafür zu töten, zu sterben oder verstümmelt zu werden.

Und auf dieselbe Weise identifiziert ihr euch – weil ihr engstirnig seid, ständig mit anderen kämpft, verwirrt, unglücklich, unsicher seid und wisst, dass ihr sterben müsst – mit etwas Jenseitigem, Unermesslichem, Bedeutendem, das ihr Gott nennt. Diese Identifikation mit dem, was ihr Gott nennt, gibt euch ein Gefühl enormer Wichtigkeit, und darüber seid ihr glücklich. Die Identifikation mit etwas Großem ist also ein Prozess der Selbstausdehnung, es ist immer noch das Streben, der Kampf des »Ich«.

Religion, wie wir sie im Allgemeinen kennen, ist nichts als eine Sammlung von Glaubenssätzen, Dogmen, Ritualen und abergläubischen Vorstellungen. Sie ist die Anbetung von Götzenbildern und Gurus, und wir glauben, all das würde uns zu einem höchsten Ziel hinführen. Das höchste Ziel ist unsere eigene Projektion, es ist, was wir uns wünschen, was uns unserer Meinung nach glücklich machen wird, eine Garantie für ewiges Leben. Besessen von diesem Wunsch nach Sicherheit, nach Gewissheit, erschafft der Geist eine Religion mit Dogmen, Priestern, abergläubischen Vorstellungen und Götzendienst und stagniert dabei. Ist das Religion? Ist Religion eine Sache des Glaubens, ist Religion eine Sache, bei der es darum geht, anderer Leute Erfahrungen und Behauptungen zu akzeptieren oder zu kennen? Ist Religion nur die Umsetzung von Moralvorstellungen? Es ist, wie ihr wisst, relativ einfach, moralisch zu sein – dies zu tun und jenes zu lassen. Ihr könnt jeden Moralkodex einfach imitieren. Aber hinter dieser Art von Moral lauert das aggressive Selbst, es bläht sich auf, dehnt sich aus, dominiert. Ist das Religion?