Die Entfaltung der Lehre – Teil 1
Pupul Jayakar (PJ): Ich will dir schon seit langem eine Frage stellen, die sich in gewissem Sinne auf deine ganze Lehre bezieht, und ich glaube, ein ausführliches Gespräch darüber könnte mir helfen, einige Dinge klarer zu sehen.
Seit dreißig Jahren besuche ich deine Vorträge, und ich habe das Gefühl, dass im Laufe dieser dreißig Jahre in der Lehre eine Bewegung statt gefunden hat. Ich benutze absichtlich das Wort ›Bewegung‹, denn ich betrachte es nicht als Entwicklung, sondern eher als eine Entfaltung.
Als ich dich im Jahre 1948 zum ersten Mal reden hörte, ging es dir vor allem um den Denkenden und das Denken, um Selbsterkenntnis, um das Beobachten der Gedanken, die im Bewusstsein aufsteigen, das Verfolgen eines Gedankens bis zu seinem Ende, das Beobachten eines weiteren Gedankens, der den ersten überlagert, und so weiter, und so weiter.
Du hast damals die Menschen, die zu dir kamen, sozusagen an der Hand genommen und bist mit ihnen in den Prozess der Selbsterkenntnis hinein gegangen.
Der Schlüssel zu deiner Lehre schien das Beobachten des Denkens zu sein.
Du sprachst auch über das Urteilen, über das Beobachten dieser Angewohnheit und über jene Bewegung, die darüber hinaus führt. Dieses Thema hatte viele Facetten: das gesamte mit dem Denkenden und dem Denken zusammen hängende Problem, die Frage, ob der Denkende vom Denken getrennt oder selbst Teil des Denkens ist. Dieses Bewusstmachen der Mechanismen des Denkens war, zumindest für mich, eines der wichtigsten Schlüsselerlebnisse für mein Verstehen. Du sagtest damals auch, dass die Pause zwischen zwei Gedanken Stille ist … oder besser gesagt, dass Stille da ist, wenn das Denken aufhört.
Heute sagst du das nicht mehr. Du sprichst kaum noch über den Denkenden und das Denken und nur noch selten über das Beobachten der Gedanken. Auch das Urteilen, das Beobachten des Urteilens und die darüber hinausgehende Bewegung sprichst du kaum noch an. Heute sprichst du von einem allumfassenden Sehen, einem Sehen aus der Ganzheit, das alles vorher genannte überflüssig zu machen scheint.
Meine Frage lautet nun: Hat sich deine Lehre von dem, was sie einmal war entfernt, und dahin bewegt, wo sie heute ist, oder handelt es sich bei dieser ›Bewegung‹ eher um eine Vertiefung der Lehre? Oder bedeutet es, dass man zu einem Zustand der Ganzheit gelangen kann, ohne diesen ganzen Prozess des Beobachtens und der Selbsterkenntnis zu durchlaufen? Denn heute nimmst du den Zuhörer nicht mehr an die Hand, um gemeinsam mit ihm in diesen Prozess hineinzugehen. Ich möchte gerne wissen, ob du von deiner früheren Position abgerückt bist?
J. Krishnamurti (K): Nein. Aber du hast das Wort ›Entfaltung‹ benutzt, und ich glaube, das ist ganz richtig. Das Hinterfragen und in Zweifel ziehen geht in die gleiche Richtung. Es ist eine Erweiterung, eine Vertiefung und, wie du sagtest, eher eine Betrachtung aus der ›Ganzheit‹, statt einer Beschäftigung mit kleinsten Details, wie wir es damals vor dreißig Jahren taten, wenn ich mich recht erinnere.
Deine Frage lautet also – korrigiere mich bitte, wenn ich sie falsch wiedergebe –, ob K sich von dem, was er früher lehrte, ganz und gar entfernt und zur heutigen Position hin bewegt hat, oder ob die Lehre jetzt direkt, einfach und umfassend ist. Würdest du das so akzeptieren?
PJ:Du sagst, dass es nur eine Vertiefung, eine Erweiterung der Lehre ist. Von deinem Standpunkt aus gesehen mag das so sein, aber was ist mit denen, die dir zuhören? Ist es denn überhaupt möglich, direkt zu springen, ohne durch all das andere hindurch zu gehen?
K: Ja.
PJ: Du sprichst heute, wie du es nie zuvor getan hast, von einer totalen Unbewegtheit des Bewusstseins …
K: Ja.
PJ: Du sprichst von einer totalen Regungslosigkeit. Und du sagst auch noch etwas anderes: Du sagst, dass das Ende des Denkens nicht Stille ist. Du hast mehrmals gesagt, dass der Raum zwischen zwei Gedanken nicht Stille ist.
K: Ich würde sagen, dass der Raum zwischen zwei Gedanken nicht Stille ist, dass aber das völlige Aufhören des Denkens Stille ist, denn es bedeutet das absolute Enden der Zeit. Wenn die Zeit zum Stillstand kommt, herrscht absolute Stille.
PJ: Nun fragt sich: Kann ein Mensch, der das Wirken der Zeit im Bewusstsein nicht beobachtet hat, der nicht die Zeit in Form von Gedanken, Urteilen und Werden beobachtet hat und daher nicht mit dem Prozess des Werdens vertraut ist, plötzlich von diesem Zustand des Werdens – einem Zustand, dessen er sich überhaupt nicht bewusst ist – in jenen anderen Zustand hinein springen?
K: Sicher nicht.
PJ: Dann sind wir wieder da, wo wir waren.
K: Nicht ganz. Lass uns Klarheit schaffen, Pupulji. Du fragst, ob ein radikaler Wandel in der Lehre stattgefunden hat, nicht wahr? Du fragst, ob wir uns nach dreißig Jahren vom Beobachten entfernt haben, ob wir nicht länger in Frage stellen, ob der Denkende, das Denken und der gesamte Inhalt des Bewusstseins etwas voneinander getrenntes und verschiedenes sind. Du fragst, ob sich das, was ich jetzt lehre, grundlegend von dem unterscheidet, was ich vor dreißig Jahren lehrte. Das ist doch die eigentliche Frage, nicht wahr?
PJ: Ja, das ist die eigentliche Frage.