Klatsch und Sorge
Zwischen Klatsch und Sorge besteht eine seltsame Wesensverwandtschaft, insofern beide Ausdruck innerer Unruhe sind. Der unruhige Geist sucht nach immer neuen Möglichkeiten, sich auszudrücken oder auszuwirken, er braucht Beschäftigung, kitzelnde Sensationen, flüchtige Interessen, und der Klatsch bietet ihm von all dem etwas.
Klatsch ist der Feind aller Gründlichkeit und allen Ernstes. Wer über andere redet, ob im guten oder bösen Sinne, der ist auf der Flucht vor sich selbst, und diese Flucht ist die eigentliche Wurzel seiner Unruhe. Rastlosigkeit ist ja ein Wesensmerkmal aller Flucht. Es scheint in der Tat, als hätten die meisten Menschen nichts als die Angelegenheiten anderer Leute im Sinn. Sie stellen die Leserschaft jener ungezählten Zeitschriften und Zeitungen mit ihren Klatschspalten und Berichten über Morde, Scheidungen und andere Sensationen.
Wir möchten wissen, was die anderen von uns denken, und legen zugleich Wert darauf, alles über sie zu erfahren. Das führt dann zu offenem oder verkapptem Snobismus und zu unwürdiger Anbetung der Prominenz. Auf diese Art nimmt uns das Außen immer mehr gefangen, während unser Inneres Hand in Hand damit verarmt. Je äußerlicher wir aber werden, desto weniger können wir der Sensationen und Zerstreuungen entraten. Die ständige Jagd nach diesen Dingen lässt den Geist nie zur Ruhe kommen und beraubt ihn damit jeder Möglichkeit, in die Tiefe zu dringen und Einsichten zu gewinnen.
Klatsch ist also das Merkmal eines ruhelosen Geistes, aber damit ist nicht gesagt, dass umgekehrt der Schweigsame innerlich ruhig sei. Den Klatsch verdammen und auf ihn verzichten, heißt noch nicht, ruhig werden; wahre innere Ruhe wird nur dem geschenkt, der dessen innewird, was ist. Da aber das, was ist, kein Zustand, sondern ein Vorgang ist, bedarf es hierzu ständiger Aufgeschlossenheit.
Die meisten Menschen glauben nicht richtig zu leben, wenn sie nicht ihre Sorgen hätten. Für die Mehrzahl von uns ist in der Tat das Ringen mit irgendwelchen Problemen eine unabdingbare Begleiterscheinung des irdischen Daseins. Ein Leben ohne Probleme ist uns schlechterdings unvorstellbar, und je intensiver uns ein Problem beschäftigt, desto wacher und tatkräftiger glauben wir zu sein. In Wirklichkeit werden wir durch das ständige, angespannte Nachgrübeln über ein Problem, das doch ein Geschöpf unseres eigenen Denkens ist, nur stumpf und müde und gleichgültig.
Woher kommt es, dass wir uns dennoch ohne Unterlass so sorgenvoll um unsere Probleme quälen? Hat denn die Sorge je ein Problem gelöst? Kommt nicht vielmehr die Antwort erst, wenn wir ruhig geworden sind? Aber für die meisten von uns hat diese innere Ruhe etwas Unheimliches, sie scheuen sich davor, ruhig zu werden, weil sie plötzlich vor ungeahnten Abgründen ihres eigenen Wesens stehen könnten. Ihre Sorgen schützen sie vor solchen Entdeckungen. Wer sich vor unliebsamen Entdeckungen fürchtet, muss ständig auf Abwehr bedacht sein, und Rastlosigkeit ist die sicherste Art der Abwehr.
Ständige Inanspruchnahme, Gewohnheit und die Einflüsse der Umwelt halten die bewusste Oberschicht unseres Denkens in einem Zustand der Erregung und Sprungbereitschaft. Unsere Zeit kommt diesem Bedürfnis nach oberflächlicher Geschäftigkeit, das im Grunde nur ein Bedürfnis nach Selbstschutz ist, besonders entgegen.
Wie der Klatsch, so gibt sich auch die Sorge den Anschein von etwas sehr Ernstem und Wichtigem. Sieht man aber näher zu, so wird man bald gewahr, dass nicht wirklicher Ernst, sondern nur ein Bedürfnis des Augenblicks dahintersteckt. Solche Bedürfnisse sind einem ständigen Wechsel unterworfen, darum finden auch Klatsch und Sorge immer wieder ein neues Thema. Abwechslung dieser Art ist aber nur abgewandte Fortdauer des gleichen Zustandes. Klatsch und Sorge finden erst ein Ende, wenn wir innewerden, wie es um die Unrast des Geistes bestellt ist. Enthaltung, Selbstkontrolle und Zucht allein vermögen es nicht, uns innere Ruhe zu schenken, solche Praktiken stumpfen nur ab und machen die Menschen eng und teilnahmslos.
Neugier führt nie zur Einsicht. Echte Einsicht erwächst nur aus der Selbsterkenntnis. Wer wirklich leidet, ist nicht neugierig, und bloße Neugier mit ihren spekulativen Obertönen steht jeder Selbsterkenntnis hindernd im Wege. Neugier und spekulatives Grübeln verraten Unrast; ein rastloser Geist aber, mag er noch so begabt sein, verbaut sich selbst den Weg zur wahren Einsicht und zum Glück.