Verlangen nach Seligkeit
Der einzelne Baum auf der großen grünen Wiese war der Mittelpunkt der kleinen Welt, die den Wald, das Haus und den See umschloss. Das ganze umliegende Land schien nach diesem Baumriesen hinzustreben, der hoch zum Himmel ragte und seine Äste weit nach allen Seiten breitete. Er musste schon sehr alt sein und war doch noch so frisch, als wäre er neu geboren. Noch war keiner seiner Äste abgestorben, und seine Blätter glänzten makellos im Morgenlicht. Weil er allein stand, schien sich alles um ihn zu versammeln. Wild und Fasanen, Kaninchen und Rinder scharten sich um die Mittagsstunde in seinem Schatten. Seine Krone stand mit ihrem schönen Ebenmaß wie ein Schattenriss gegen den Himmel. Im Licht des frühen Morgens schien es, als wäre dieser Baum das einzige lebendige Wesen weit und breit. Vom Wald aus gesehen war es, als stünde er in weiter Ferne, trat man jedoch unter ihn, so hatte man den Eindruck, als wären einem das Haus, der Wald und sogar der Himmel auf einmal ganz nahe – zuweilen hatte man wahrhaftig das Gefühl, man reichte mit der ausgestreckten Hand bis an die ziehenden Wolken.
Unter diesem Baum hatten wir schon eine Weile gesessen, als er zu uns trat. Er befasste sich ernstlich mit Meditation und sagte uns, er habe sich schon seit vielen Jahren darin geübt, ohne allerdings einer bestimmten Schule des Denkens anzugehören. Obwohl er viele der christlichen Mystiker studiert habe, fühle er sich mehr zu den Meditationen und Disziplinen der heiligen Hindus und Buddhisten hingezogen. Sehr bald schon, so fuhr er fort, sei er sich über die Unreife jenes Asketizismus klargeworden, der die Menschen dadurch verlocke, dass er ihnen Macht durch Enthaltung verspreche. Darum habe er sich auch von Anfang an vor jeder Übertreibung gehütet, obwohl er sich innere Disziplin und unwandelbare Selbstkontrolle besonders angelegen sein lasse. Sein Ziel sei, zur Erkenntnis dessen zu gelangen, was sich hinter und jenseits aller Meditation verberge. Nach landläufigen Begriffen habe er ein streng moralisches Leben geführt, aber das habe nicht viel zu sagen, zumal ihm die Welt mit ihren Verlockungen ohnehin ziemlich gleichgültig sei. Früher habe er wohl einmal mit weltlichen Dingen herumgetändelt, aber damit sei es schon seit mehreren Jahren vorbei. Wenn er noch eine Art Tätigkeit ausübe, so geschehe das doch nur am Rande.
Zweck aller Meditation ist die Meditation selbst. Wer hinter und jenseits der Meditation etwas sucht, der strebt nach einem Ergebnis, einem Endgewinn und was dabei gewonnen wird, geht alsbald wieder verloren. Ein Ergebnis anstreben heißt nur selbstentworfene Vorstellungen hegen, denn jedes noch so erhabene Ziel ist seinem Wesen nach nur eine Wunschvorstellung des Ichs. Meditation, die dazu dient, ein Ziel zu erreichen, etwas zu gewinnen oder zu entdecken, stärkt nur die Gegenkraft dessen, der sie als Mittel zum Zweck benutzt, also des Meditierenden. Der Meditierende ist die Meditation, und meditieren heißt nichts anderes, als des Meditierenden innewerden.
»Ich meditiere, um zur Fülle des Seins zu gelangen, oder genauer gesagt, mich in einen Zustand zu versetzen, in dem sie sich offenbaren kann. Was ich suche, ist also kein Ergebnis im eigentlichen Sinn, sondern jene Seligkeit, von der man zuweilen etwas zu ahnen glaubt. Ich weiß, es gibt dieses unbeschreibliche Glück, und ich verlange danach wie ein Verschmachtender nach einem Schluck Wasser. Jene Seligkeit ist unendlich viel mehr als alle Freuden der Welt, sie ist mein einziger Gedanke, das höchste Ziel meiner Wünsche.«
Das heißt doch, dass Sie meditieren, um zu erlangen, was Sie sich wünschen. Um dieses Zieles willen unterwerfen Sie sich einer strengen Zucht, befolgen Sie alle möglichen Vorschriften und Regeln. Sie setzen einen Kurs fest und steuern ihn ein ganzes Leben lang, um das zu erlangen, was Sie am Ziel dieser Reise erwartet. Schon unterwegs hoffen Sie gewisse Teilergebnisse zu gewinnen, Vorstufen zum Erfolg und Früchte Ihrer Ausdauer, die Ihnen zur Belohnung Ihres Strebens Glück in zunehmender Fülle bescheren sollen. Ihre sorgfältige Planung gibt Ihnen vollends die Gewissheit, dass Sie das gesteckte Endziel auch erreichen. Sagen Sie selbst, macht Ihre Meditation nicht ganz den Eindruck eines wohlberechneten und von festen Absichten geleiteten Unterfangens?
»So wie Sie es darstellen, sieht mein Streben allerdings unsinnig aus, aber eben doch nur bei oberflächlicher Betrachtung. Blickt man jedoch tiefer, so ist bestimmt nicht viel dagegen zu sagen. Was wäre auch dagegen einzuwenden, dass man einen Weg zur inneren Glückseligkeit sucht? Und wenn es so ist, dass ich für alle meine Mühe Anspruch auf ein Ergebnis zu haben glaube, so frage ich wiederum: Ist das ein Unrecht?«
Das Verlangen nach Glückseligkeit geht doch von der Voraussetzung aus, dass Glückseligkeit etwas Endgültiges, Ewiges ist, nicht wahr? Kein anderes Ergebnis hat uns genügt. Wir haben voll Eifer nach weltlichen Zielen gestrebt und jedes Mal erfahren müssen, wie rasch uns alles Erreichte wieder entglitt. Daher rührt unsere Sehnsucht nach einem Zustand von ewiger Dauer, nach einem Ziel, das einmal kein Ende bedeutet. Der Verstand begibt sich auf die Suche nach dieser endgültigen, unzerstörbaren Zuflucht, er unterwirft sich der Zucht und der systematischen Übung, er befleißigt sich der Pflege ganz bestimmter Tugenden, um zu gewinnen, wonach ihn verlangt. Vielleicht gab es einmal einen Augenblick, da er diese Glückseligkeit erlebte, darum rennt er jetzt keuchend hinter ihr her. Wie alle anderen, so jagen also auch Sie hinter einem Ergebnis her, nur dass das Ihre einen besonderen Rang einnimmt. Sie mögen ihn höher nennen, aber das tut nichts zur Sache. Jedes Ergebnis ist ein Ende, eine Ankunft, alles Ankommen aber schließt neues Beginnen, neue Bemühung um neues Werden in sich. Der Verstand kommt nie zur Ruhe, er ist ohne Unterlass mit fieberhaftem Eifer dabei, zu streben, zu erreichen, zu gewinnen und – natürlich – immer in Angst, das Gewonnene zu verlieren. Dieser Vorgang wird Meditation genannt. Kann aber ein Verstand, der sich im Werdedrang erschöpft, jemals der wahren Glückseligkeit innewerden? Kann ein Verstand, der sich selbst einer strengen Zucht unterwirft, je frei sein, um dieser Glückseligkeit teilhaftig zu werden?
Durch seine Mühen und Kämpfe, sein unablässiges Widerstreben und Verneinen wird unser Sinn stumpf und gefühllos, wie könnte ein solcher Sinn je offen, ungeschützt und verwundbar sein? Haben Sie nicht durch Ihr Begehren nach Glückseligkeit eine feste Mauer um sich herum gebaut, die das Unwägbare, das Unbekannte nicht durchdringen kann? Haben Sie sich damit nicht wirksam von allem Neuen abgeschlossen? Sie haben zwar aus Altem einen Weg für das Neue gebahnt, wie aber sollte das Neue je in das Alte eingehen?
Der Verstand ist nicht in der Lage, Neues zu schaffen, sein Denken ist selbst ein Ergebnis, und alle Ergebnisse sind Ausgeburten des Alten. Ergebnisse können nie neu sein, weil wir sie nicht unbefangen erstreben können. Was frei und unbefangen ist, wird nie zielstrebig sein. Alle Ziele, alle Ideale sind Vorstellungsbilder des Verstandes, solche Vorstellungen sind daher bestimmt alles andere als Meditation. Echte Meditation soll den Meditierenden ja gerade von solchen Hemmnissen befreien, denn Freiheit allein lässt Entdeckungen zu und schenkt jene Empfindsamkeit, die zum Aufnehmen, zum Empfangen nötig ist. Ohne Freiheit finden wir keine Glückseligkeit, aber Freiheit wird gewiss nicht durch Zucht gewonnen. Zucht schafft eine Schablone der Freiheit, aber diese Schablone ist nicht die Freiheit selbst. Die Schablone muss zerbrochen werden, damit sich die Freiheit entfalten kann, und dieses Zerbrechen der Form ist Meditation. Aber das Zerbrechen der Form kann weder ein Ziel noch ein Ideal sein, weil die Form von Augenblick zu Augenblick zertrümmert wird. Der Augenblick, in dem sie in Trümmer fällt, ist der vergessene Augenblick, der erinnerte Augenblick dagegen gibt der Norm, dem Gehäuse der Unfreiheit seine Gestalt. Dabei und nur dabei tritt auch der eigentliche Schöpfer der Form in Erscheinung, der Urheber aller Probleme, aller Konflikte und allen Leides.
Meditation befreit das Denken von seinen eigenen Gedanken in allen seinen Schichten. Der Gedanke selbst erschafft den Denker. Der Denker ist von seinem Gedanken nicht zu trennen, Denker und Gedanke sind also ein und dasselbe und nicht etwa zwei verschiedene Erscheinungen. Reißt man sie auseinander, dann sind Irrtum und Illusion die unvermeidlichen Folgen. Der Meditierende ist die Meditation. In diesem Einssein ist der Geist einsam und wird nicht einsam gemacht, ist er still und wird nicht still gemacht. Wer in diesem Sinne einsam ist, findet zu dem, was keine Ursache hat, nur ihm wird wahre Glückseligkeit zuteil.