Einfachheit des Herzens

Der Himmel war ein blauer Abgrund. Kein Wölkchen zog darüber hin, verschwunden waren die mächtigen, breitbeschwingten Vögel, die so mühelos über Täler und Berge gleiten. Die Bäume standen schweigend, und in den geschwungenen Falten der Hügel nisteten die Schatten. Verzehrt von Neugier folgte uns eine Hirschkuh von weitem mit dem Blick und schoss bei unserem Näherkommen plötzlich mit einem erschrockenen Satz davon. Unter einem Busch saß regungslos und von der braunen Erde kaum zu unterscheiden eine flache, gehörnte Kröte mit glitzernden schwarzen Augen. Im Westen standen die Berge zackig und klar vor der Abendsonne. Weit unter uns lag ein größeres Gebäude mit einem Schwimmbecken davor, in dem sich einige Leute tummelten. Etwas weiter bergab führte die staubige Straße an einer kleinen Hütte vorüber, die auf dürrem, unfruchtbarem Gelände stand. Man ahnte bis zu uns herauf die Armut, den Schmutz und die Plackerei, die dort herrschen mussten. Von oben gesehen lagen die beiden Häuser ganz dicht beisammen, Hässlichkeit und Schönheit berührten einander.

Einfachheit des Herzens ist tausendmal wichtiger als Genügsamkeit. Es ist im Grunde gar nicht schwer, mit Wenigem zufrieden zu sein. Auf Bequemlichkeiten zu verzichten, das Rauchen und andere Gewohnheiten, ist noch kein Zeichen eines wunschlosen Gemüts. Man wird nicht dadurch frei, dass man in einer von Mode, Technik und Zerstreuungen besessenen Welt im Lendentuch umhergeht. Ein Bekannter von mir hatte der Welt und ihrem Treiben abgeschworen, aber seine Begierden und Leidenschaften hielten ihn darum nicht weniger in Atem. Er trug zwar das Gewand eines Mönchs, aber Frieden kannte er nicht. Er hatte ständig etwas Suchendes im Blick und war von Zweifeln und Hoffnungen zerrissen. Äußerlich kasteit man sich, verzichtet man und plant schon vorher Schritt für Schritt den Weg, der zum ersehnten Ziele führen soll. Dann misst man den erzielten Fortschritt am jeweils äußerlich Erreichten, indem man befriedigt feststellt, man habe dieses oder jenes aufgegeben, da und dort Selbstbeherrschung, Güte, Freigebigkeit und diese oder jene andere Tugend bewiesen. Hat man schließlich noch die Kunst der Konzentration gelernt, dann zieht man sich in einen Wald, ein Kloster oder ein verdunkeltes Zimmer zurück und meditiert. Die Tage vergehen mit Wachen und Beten. Das Leben ist äußerlich einfach geworden, und dieses ganze wohldurchdachte und berechnete Unternehmen soll dazu dienen, eine innere Seligkeit zu erlangen, die nicht von dieser Welt ist.

Aber kommt man durch eine solche Unterwerfung unter selbstauferlegte Gesetze der Wahrheit wirklich näher? Genügsamkeit in äußeren Dingen, Verzicht auf Luxus und Lebensgenuss sind sicherlich notwendig, aber öffnet uns diese äußerliche Umstellung etwa das Tor zu dem, was ist? Gewiss, die ewige Sorge um Erfolg und Wohlergehen belastet Geist und Herz und nimmt ihnen Schwung und innere Freiheit, aber macht man nicht doch allzu viel Wesens von solchen Äußerlichkeiten? Warum sind wir so darauf erpicht, unser inneres Streben nach außen hin kundzugeben? Etwa aus Angst vor Selbsttäuschung oder vor dem, was andere über uns sagen könnten? Oder liegt die Erklärung darin, dass wir uns der Bedeutung unseres inneren Wachstums ständig bewusst bleiben möchten?

Das Verlangen, zum wunschlosen Sein vorzudringen, ist die Ursache aller Schwierigkeiten. Von diesem beständig wachsenden Verlangen getrieben, befassen wir uns damit, unser inneres und äußeres Leben zu sichten, das eine zu mehren, anderem zu entsagen, dies zu pflegen, jenes zu unterdrücken. Wir sehen, wie die Zeit den Menschen alles wegstiehlt, darum klammern wir uns an das Zeitlose. Dieses Ringen um das wunschlose Sein in Bejahung oder Verneinung, durch Bindung oder Verzicht, kann niemals mit den Waffen äußerlicher Haltung, Disziplin oder Askese entschieden werden, nur wahre Einsicht, jenes Innewerden, das uns das Wesen unseres Ringens enthüllt, befreit uns auf eine natürliche, zwanglose Art von dem rastlosen Streben nach Häufung äußerer und innerer Werte samt der Enttäuschung, zu der es führen muss. Der Weg der Entsagung führt nicht in die Fülle des Seins, denn diese ist kein Zweck, der durch irgendein Mittel erreicht werden könnte. Alle Mittel und Zwecke sind Fesseln, sie müssen fallen, wenn sich die Fülle des Seins entfalten soll.