Zeit – Teil 1

Er war ein älterer, aber noch rüstiger Mann mit langem grauem Haar und einem weißen Bart. Er hatte an Universitäten in verschiedenen Erdteilen Philosophie gelesen und legte ein ruhiges, aber sehr lehrhaftes Gehaben an den Tag. Er übe nie Meditation, sagte er, und sei auch nicht im üblichen Sinne religiös. Sein ganzes Interesse galt seiner Wissenschaft, und obwohl er über Philosophie und religiöses Erleben las, konnte er selbst mit nichts dergleichen aufwarten und entwickelte in dieser Hinsicht auch keinerlei Ehrgeiz. Er war gekommen, um mit mir über das Problem der Zeit zu sprechen.

Wie schwierig ist es für einen Besitzenden, sich frei zu machen! Dem Reichen fällt es äußerst schwer, von seinem Reichtum zu lassen, er wird auf das angenehme Bewusstsein, reich zu sein, nur verzichten, wenn ihm der Sinn wirklich nach Höherem steht. Sein Ehrgeiz muss auf einem anderen Feld Genüge finden, ehe er fahren lässt, was er in Händen hat. Für den Reichen ist Geld Macht, Macht, die ihm allein zur Verfügung steht. Er mag riesige Summen verschenken, aber er ist der Spender.

Wissen ist nur eine andere Form des Besitzens, der Mann des Wissens ist mit seinem Besitz glücklich und zufrieden, da er für ihn einen Selbstzweck darstellt. Er hegt die Erwartung – dieser Eine wenigstens tat es –, dass Wissen auf irgendeine Weise äußere Probleme lösen werde, wenn es nur, ob in Mengen oder nur als dünner Aufguss, rund um die Welt verbreitet werde. Dem Mann des Wissens scheint es noch schwerer zu fallen als dem Vermögenden, sich von seinen Besitztümern frei zu machen. Es ist seltsam, wie leicht sich bloßes Wissen als Weisheit und Erkenntnis auszugeben vermag. Wenn wir nur ein bisschen über eine Sache Bescheid wissen, dann glauben wir schon, sie erkannt und durchschaut zu haben, es genügt uns, die Ursache eines Problems zu kennen oder in Erfahrung zu bringen, um uns einzubilden, es sei behoben. Daher suchen wir immer nur nach den Ursachen unserer Probleme und kommen eben dadurch nicht dazu, des Problems selbst innezuwerden. Die meisten von uns sind sich sehr bald über die Ursachen im klaren, es ist ja nicht schwer zu ergründen, warum man sich zum Beispiel über andere aufregt. Solange wir nach den Ursachen Ausschau halten, sind wir eben noch in der glücklichen Lage, die Wirkungen zu genießen. Oder ist etwa Entrüstung kein Genuss? Wir beschränken uns dann auf den Ausgleich der Wirkungen, kümmern uns aber keineswegs um die Erkenntnis des ganzen Vorgangs. Die meisten Menschen hängen nämlich an ihren Problemen, sie kämen sich ganz verloren vor, wenn sie sie nicht hätten. Unsere Probleme machen uns zu schaffen, ihre Auswirkungen füllen unser Dasein aus. Ja, wir sind mit unseren Problemen und ihren Auswirkungen identisch.

Die Zeit ist ein seltsames Phänomen. Raum und Zeit sind ein und dasselbe, es gibt weder Raum ohne Zeit, noch Zeit ohne Raum. Für uns kommt der Zeit eine außerordentliche Bedeutung zu, und diese Bedeutung ist überdies für jeden einzelnen verschieden. Für den Wilden bedeutet sie nicht viel, der zivilisierte Mensch ist ganz und gar an sie gebunden. Der Wilde vergisst von heute auf morgen; wenn sich ein Gebildeter das erlaubte, käme er in ein Irrenhaus oder verlöre zum mindesten seine Stellung im Leben. Für den Gelehrten ist Zeit etwas anderes als für den Laien. Dem Geschichtsforscher bedeutet Zeit das Studium des Gewesenen, für den Börsenmann ist sie der Ticker, für die Mutter die Erinnerung an den Sohn, für den Erschöpften die ersehnte Rast im Schatten. Jeder gibt ihr die Bedeutung, die seinen Bedürfnissen und Neigungen am besten entspricht, und gestaltet sie ganz nach den Wünschen seines schlauen Verstandes. Nur eines bleibt uns Menschen versagt: ganz auf die Zeit zu verzichten. Wir brauchen die Zeit der Uhren, die siderische Zeit, zum Leben so notwendig wie das Auf und Ab des Jahres. Aber gibt es etwa daneben auch noch eine psychologische Zeit, eine Zeit in uns selbst, oder ist das nur ein irreführender Begriff unseres oberflächlichen Denkens? Ohne Zweifel gibt es nur die siderische Zeit, alles andere ist Irrtum und Selbsttäuschung. Das Wachsen hat seine Zeit, und das Sterben hat seine Zeit, das Säen hat seine Zeit, und das Ernten hat seine Zeit, dass es außerdem eine psychologische Zeit, eine Zeit des ›Werdens‹ geben soll, ist ein Irrtum.

»Was bedeutet Ihnen die Zeit? Machen Sie sich über die Zeit Gedanken? Werden Sie ihrer gewahr?«

Kann man, außer im chronologischen Sinne, überhaupt über die Zeit nachdenken? Die Zeit kann uns als Mittel dienen, aber an sich selbst hat sie doch herzlich wenig zu bedeuten, nicht wahr? Zeit als abstrakter Begriff ist reine Spekulation, und alle Spekulation ist eitel. Wir nutzen die Zeit, um etwas zu erreichen, das im Bereich des körperlich Greifbaren oder des Seelischen liegen kann. Wir brauchen etwa Zeit, um zum Bahnhof zu gehen, aber den meisten Menschen dient die Zeit auch als Mittel zu einem inneren Zweck, und dieser Zwecke gibt es viele. Wir werden uns der Zeit bewusst, wenn sich unseren Absichten ein Hindernis entgegenstellt oder wenn wir uns den Weg zum Erfolg vor Augen halten. Zeit ist die Spanne zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, sein sollte oder sein wird. Zeit ist der Anfang des Weges zum Ende.