Sein und Werden – Teil 1

Sechs muntere kleine Welpen spielten im warmen Sand. Sie waren rein geleckt und rund wie kleine Wollknäuel, ihre Fellchen waren von weißer oder lichtbrauner Farbe. Ihre Mutter lag ein wenig abseits im Schatten, ein mageres, erschöpftes Wesen, so räudig, dass sie fast nackt aussah. Der Körper der Hündin war mit Wunden bedeckt, aber sie wedelte dennoch mit dem Schweif und war voll Stolz auf ihre kugelrunde Nachkommenschaft. Dabei hatte sie wohl kaum noch mehr als einen Monat zu leben. Sie war eines von jenen armen, herrenlosen Tieren, die sich streunend um die Behausungen der Ärmsten schleichen und im Schmutz der Gossen ihre kümmerliche Nahrung suchen, immer hungrig, immer scheu und fluchtbereit. Die Menschen schleuderten ihr Steine nach und jagten sie von ihren Türen, wenn sie sich blicken ließ, darum ging man ihnen am besten aus dem Wege. Aber hier im Schatten war ihr das böse Gestern nur noch ein ferner Traum, jetzt war sie einfach müde, zu Tode erschöpft. Und doch freute sie sich, dass die Menschen an ihren Kindern Gefallen fanden, dass man sie streichelte und mit ihnen sprach. Der Tag ging zur Neige, vom breiten Strom her wehte eine kühle, erfrischende Brise, die arme Hündin war wunschlos zufrieden. Wo sie ihre nächste Mahlzeit herbekam, war eine andere Frage – aber die konnte sie jetzt nicht berühren.

Am Ufer entlang, vorbei an grünenden Wiesen, gelangte man an das andere Ende des Orts, und dort stand in einer staubigen, lärmerfüllten Straße das Haus, in dem die Menschen zur Beratung ihrer Angelegenheiten zusammenkamen. Es waren Menschen verschiedenster Art, bedachtsame und hitzköpfige, träge und streitsüchtige, gewitzte und solche, denen ihre Grundsätze heilig waren. Die Bedachtsamen waren geduldig, die Gewitzten stachelten jene an, die ihnen nicht folgen konnten, die Raschen gaben immer das Tempo an, die Langsamen mussten notgedrungen mit ihnen Schritt halten. Nun ist es so, dass echte Einsichten blitzartig aufzuleuchten pflegen; das tun sie aber nur, wenn wir für eine noch so kurze Zeitspanne still sein können. Die Raschen, Geschäftigen sind viel zu ungeduldig, um dieser Stille Raum zu geben, in der die Blitze der Einsicht leuchten.

Einsichten werden nämlich nie mit Worten erreicht, es gibt keine durch den Verstand vermittelte Einsicht. Die sogenannte verstandesmäßige Einsicht beruht immer nur auf dem Wort und ist daher niemals echt. Denken kann nie zu echter Einsicht führen, da sich alles Denken in Worten vollzieht. Ohne Gedächtnis kein Gedanke, ›Gedächtnis‹ aber ist Wort, ist Gleichnis, ist die unheimliche Gabe des Menschen, den Raum seines Bewusstseins mit Bildern zu füllen. In diesem Bereich gibt es keine Einsicht. Wahre Einsicht blitzt vielleicht zwischen zwei Worten auf, in jener winzigen Spanne, die zwischen dem Wort und dem Gedanken liegt, den es erzeugt. Einsicht ist weder den Gewitzten noch den Langsamen geschenkt, sondern allein jenen, die durch die unmessbar schmalen Lücken in der Wortflut in die Tiefe dringen.

»Wie kommt es, dass unsere Gesellschaft mehr und mehr zerfällt? Erleben wir nicht täglich draußen in der Welt und mehr noch in unserem eigenen Herzen, dass das Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Menschen unheimlich rasch dahinschwindet? Wie kann man dieser Auflösung Einhalt tun? Wie finden wir wieder zur Einheit, zum menschlichen Zusammenhalt?«

Wir finden nur wieder zusammen, wenn wir uns einmal ernstlich klarmachen, was uns so auseinanderreißt. Menschlicher Zusammenhalt lässt sich nicht nur in diesen oder jenen Kreisen oder Gruppen verwirklichen, er erfordert vielmehr unbedingt, dass sich alle Menschen finden. Doch greifen wir nicht vor. Wenn wir weiterkommen wollen, müssen wir zunächst klarstellen, was wir unter ›Zerfall der Gesellschaft‹ verstehen, nicht wahr? Ist etwa Streit ein Anzeichen des Zerfalls? Wir suchen nicht nach einer Begriffsbestimmung, sondern nach der tieferen Bedeutung des Wortes.

»Sind Kampf und Streit nicht unvermeidlich? Leben heißt Kämpfen, kampfloses Dasein führt zum Verfall. Hätte ich kein Ziel, um das ich ringen muss, so würde ich alsbald entarten. Der Kampf gehört nun einmal zum Leben wie das Atemholen.«

Das ist eine kategorische Behauptung, die allem Forschen und Fragen ein Ende macht. Wir wollen doch versuchen, herauszufinden, was dem Zerfall der menschlichen Gesellschaft Vorschub leistet, und ich frage mich, ob nicht grade dieser ewige Kampf aller gegen alle daran wesentlichen Anteil hat. Aber zunächst eine Frage: Was wollen wir hier unter Kampf und Streit verstanden wissen?

»Nun, sagen wir den Wettbewerb, das Vorwärtsstreben, die Anspannung aller Kräfte, das Bedürfnis, im Leben voranzukommen, die Unzufriedenheit und so weiter.«

Kampf tobt also nicht nur in bestimmten abgegrenzten Lebensbereichen, er erfüllt vielmehr das ganze Dasein mit seinem Lärm und Getümmel. Jedes Werden, jede Entwicklung vollzieht sich im Kampf, nicht wahr? Der Lehrling wird Direktor, der Vikar wird Bischof, der Schüler wird zum Meister – und jeder solcher Werdegang bedeutet Kampf und Drängen nach vorn.

»Wohin kämen wir ohne diesen Wettlauf des Werdens? Ist er nicht unvermeidlich? Wie könnte sich ein Mensch aus diesem Kampf ums Dasein heraushalten? Und steckt nicht hinter allem Streben letztlich die Angst?«

Wir suchen hier nicht nur dialektisch herauszufinden, sondern tief innerlich zu erfahren, was zum Zerfall der Menschheit führt. Es geht also nicht um die Frage, wie wir dem Kampf ausweichen könnten oder was dahintersteckt. Leben ist doch etwas wesentlich anderes als Werden, nicht wahr? Gewiss, leben wollen heißt wohl auch kämpfen müssen, aber was uns hier angeht, ist ja das immerwährende Werden, der dunkle Drang, besser zu sein als andere, sich hinaufzuarbeiten, kurz, das, was ist, in sein Gegenteil zu verwandeln. Dieser innere Werdedrang könnte daran schuld sein, dass unser Alltag so trist und öde geworden ist, weil ihn nur noch Streit und wüstes Strebertum erfüllen. Was verstehen wir unter diesem ›Werdedrang‹? Nun, etwa das innere Bedürfnis des Priesters, Bischof, des Schülers, Meister zu werden – und so weiter. Jedes Werden solcher Art kostet Kampf im positiven oder negativen Sinne.

Dieser Kampf richtet sich gegen das natürliche Beharrungsvermögen eines jeden gegebenen Zustandes mit dem Ziel, das, was ist, in etwas anderes zu verwandeln. Nicht wahr, so ist es doch? Heute bin ich, der ich bin, aber das lässt mir keine Ruhe, bis morgen muss ich ein anderer werden, und dieses Werdenwollen trägt mir nichts ein als Kampf und Streit. Habe ich glücklich erreicht, was ich wollte, dann stehe ich sogleich vor der nächsten Stufe, ein neues Ziel für meinen Werdedrang bietet sich dar. So geht es ohne Ende fort. Man ›wird‹ und ›wird‹, und der Kampf um den ›Platz an der Sonne‹ reißt ein ganzes Leben lang nicht ab. Nun sag mir nur eins: Warum das alles? Kann ich mich denn nicht mit dem zufrieden geben, was ich nun einmal bin?