Drei gläubige Egoisten
Neulich besuchten mich drei gläubige Egoisten. Der erste war ein Sannyasi, ein Mann, der der Welt entsagt hatte, der zweite ein Orientalist und Apostel der Brüderlichkeit, der dritte ein überzeugter Vorkämpfer für ein Wunderland Utopia. Jeder der drei ging ganz in seiner Arbeit auf und blickte überlegen auf das Tun und Treiben der anderen herab. Jeder der drei wurde ganz von seiner Überzeugung getragen. Einer wie der andere lebten sie nur ihrem Glauben, zugleich aber verrieten sie mir alle drei eine auffallende Gemütsrohheit.
Sie sagten mir, und zwar der Utopist mit besonderem Nachdruck, sie seien jederzeit bereit, sich selbst wie ihre Freunde für ihren Glauben zu opfern. Ihre Rede war freundlich und milde – hierin tat sich vor allem der Verfechter der Brüderlichkeit hervor –, aber sie verrieten mir doch alsbald ihre Herzenshärte und jene Intoleranz, die für viele Hochgestellte kennzeichnend ist. Natürlich, sie waren ja auch die Auserwählten, die Deuter der Wahrheit. Sie allein wussten Bescheid und waren ihrer selbst völlig sicher.
Der Sannyasi sagte mir im Verlauf eines ernsten Gesprächs, er bereite sich jetzt schon auf sein künftiges Dasein vor. Dieses Leben, meinte er, habe ihm herzlich wenig zu bieten, er habe den Schein dieser schlimmen Welt durchschaut und alle Brücken zu dem bösen Diesseits hinter sich abgebrochen. Beiläufig gestand er mir ein, dass ihm noch einiges an der Vollkommenheit fehle, und die Konzentration, meinte er, mache ihm noch immer Schwierigkeiten. Aber in seinem nächsten Leben wolle er auf alle Fälle jene Heiligkeit erreichen, die er sich stets als Ziel vor Augen halte.
Er ging offenbar ganz und gar in der Überzeugung auf, dass er es in seinem nächsten Dasein zu etwas Besonderem bringen werde. Wir unterhielten uns ziemlich lange, und dabei lag bei ihm der Ton immer auf dem Morgen, auf der Zukunft. Natürlich, sagte er, gebe es auch die Vergangenheit, aber sie könne doch nur insoweit von Bedeutung sein, als sie auf das Kommende Bezug habe. Auch die Gegenwart war für ihn nur die Schwelle zur Zukunft, das Heute beschäftigte ihn nur wegen des Morgen. Warum solle man arbeiten, fragte er, wenn es kein Morgen gebe? Dann genüge es doch, sein Leben irgendwie zu fristen und es den heiligen Kühen gleichzutun.
Sein ganzes Leben war ein ständiges Fließen aus der Vergangenheit durch den gegenwärtigen Augenblick hindurch in die Zukunft. Wir sollten unser Heute nur dazu nutzen, Schätze für die Zukunft zu sammeln, um uns morgen etwa durch Weisheit, durch Stärke oder durch Mitleid hervorzutun. Gegenwart wie Zukunft seien vergänglich, aber morgen reife die Frucht. Das Heute, behauptete er steif und fest, sei nichts als der Übergang zu diesem Morgen, wir sollten es darum nicht zu wichtig nehmen und nicht zu viel Wesens davon machen. Wichtig sei allein, an das Morgen zu glauben und den Weg dorthin sicher zurückzulegen. Wenn man ihn hörte, hatte man den Eindruck, dass ihm die Gegenwart ein Gräuel war.
Der Apostel der Brüderlichkeit war ein gebildeter Mann, der offenkundigen Wert auf eine gehobene Ausdrucksweise legte. Er wusste seine Worte gewandt zu setzen und wirkte mild und überzeugend. Auch er hatte sich sein Heiligtum in die Zukunft hineingebaut. Dort suchte er seine Erfüllung. Dieser Gedanke beherrschte ihn ganz und gar, nur um der Zukunft willen hatte er seine Schüler um sich geschart. Der Tod, sagte er mir, sei der schönste Augenblick für ihn, denn er öffne ihm endlich das Tor zu seinem Heiligtum, aus dem ihm jetzt schon die Kraft zuströme, das Leben in dieser Welt voll Kummer und Hässlichkeit zu ertragen. Er begeisterte sich für eine Umgestaltung der Verhältnisse zur Verschönerung des Lebens, er war ein glühender Vorkämpfer für Brüderlichkeit und Nächstenliebe – aber zugleich vertrat er den Standpunkt, in einer vorwärts und aufwärts strebenden Welt müsse man den Ehrgeiz samt der untrennbar damit verbundenen Rücksichtslosigkeit und Bestechlichkeit wohl oder übel in Kauf nehmen. Leider, leider, sagte er, seien auch in der Arbeit segensreicher Organisationen gewisse Härten nicht zu vermeiden, wenn man etwas erreichen wolle. Sein Werk zum Beispiel sei doch von außerordentlicher Bedeutung für die ganze Menschheit, um dieser großen Sache willen müsse jeder – natürlich in der liebenswürdigsten Form – abgeschoben werden, der sich nicht einfügen wolle. Das Ganze sei eben wichtiger als der Teil, darum sei es Pflicht, alles aus dem Wege zu räumen, was die Arbeit behindere. »Andere mögen ihre eigenen Wege gehen«, so drückte er sich aus, »aber unser Weg ist auf jeden Fall der richtige, und wer uns auf diesem Weg entgegentritt, der gehört nicht zu uns und muss weichen.«
Der Utopist endlich bot mir ein seltsames Durcheinander von Idealismus und hartem Realismus dar. Seine Bibel war nicht die alte, sondern funkelnagelneu, und er hatte jedes ihrer Worte tief gläubig in sich aufgenommen. Er kannte die Zukunft genau; denn sein neues Buch sagte ihm das Kommende in allen Einzelheiten voraus. Sein Plan bestand darin, das Bestehende zu unterwühlen, um auf seinen Trümmern die neue Ordnung zu organisieren und zu verwirklichen. Die heutige Welt, sagte er, sei grundschlecht und verdorben, darum müsse sie ohne Erbarmen zerstört werden. Nur so gewinne man Raum für den Aufbau der neuen Ordnung. Es lasse sich nicht vermeiden, die Gegenwart zu opfern, wenn man eine bessere Zukunft schaffen wolle. Er interessierte sich nur noch für den Menschen der Zukunft, die heute Lebenden waren für ihn alle verloren und gingen ihn nichts an.
»Wir sind uns völlig darüber klar«, sagte er, »wie dieser neue Menschentyp aussehen wird, und haben alle Mittel in der Hand, ihn geistig und körperlich nach unseren Absichten zu formen. Aber wir müssen vor allem an die Macht, damit wir unseren Plan zum Besten der Menschheit verwirklichen können. Ohne Bedenken werden wir uns selbst und andere hinopfern, damit aus unserem Geist der neue Staat entstehe. Wer uns dabei in den Arm fällt, muss sterben; denn was sind Menschenleben, wenn es um ein Ziel wie das unsrige geht? Um dieses Ziel zu erreichen, ist uns jedes Mittel recht.«
Im Kampf für den Weltfrieden der Zukunft hielt er also jedes Gewaltmittel für erlaubt, und die persönliche Freiheit künftiger Geschlechter ließ sich nach seiner innersten Überzeugung nur durch rücksichtslose Tyrannei erringen. »Wenn wir erst die Macht in Händen haben«, erklärte er mir, »werden wir alle nur denkbaren Zwangsmittel anwenden, um die neue Gesellschaft ohne Klassen und ohne Priester zu formen. Von den Grundsätzen unserer Lehre weichen wir um keinen Preis ab, daran sind wir eisern gebunden, nur unser strategisches und taktisches Verhalten kann sich je nach den wechselnden Gegebenheiten wandeln. Wir planen, organisieren und handeln mit dem Ziel, die heutige Welt zu Gunsten einer besseren Zukunft zu zerschlagen.«
Alle Drei, der Sannyasi, der Apostel der Brüderlichkeit und der Utopist, leben also nur für das Morgen, für die Zukunft. Sie sind nicht etwa ehrgeizig im weltlichen Sinn, sie suchen nicht Ruhm, Reichtum oder Anerkennung, ihr Ehrgeiz ist viel feiner und hintergründiger. Der Utopist macht die Sache einer Gruppe zu der seinen, die nach seiner Überzeugung eines Tages die Welt neu ordnen wird, der Apostel der Brüderlichkeit strebt für seine Person nach der ewigen Seligkeit, und der Sannyasi will eines künftigen Tages vollkommen sein. Sie alle sind ganz erfüllt von ihrem eigenen Werdegang, ihren Hoffnungen und ihren hochgesteckten Zielen. Ihnen opfern sie den Frieden, die Mitmenschen und das wahre Glück und werden sich dessen nicht einmal bewusst.
Jeder ehrgeizige Wunsch – gleichgültig, ob er einer Gruppe, dem eigenen Heil oder persönlicher Vollkommenheit gilt – ist aufgeschobenes Handeln. Wünsche greifen stets in die Zukunft, der Wunsch, etwas zu werden, lähmt unser Tun in der Gegenwart. Und doch ist das Heute so unendlich viel wichtiger als das Morgen. Im Jetzt liegt alle Zeit beschlossen, wer dieses Jetzt recht erfasst, der wird frei von aller Zeit. Werden dagegen bedeutet Fortdauer der Zeit und ihrer Trübsal. Im Werden ist das Sein nicht etwa eingeschlossen. Sein ist immer nur in der Gegenwart, und Sein ist die höchste Stufe inneren Wandels. Werden ist nur ein anderes Wort für Dauer, einen Wandel von Grund auf aber kann nur die Hinwendung zur Gegenwart, zum Sein bewirken.