Leiden – Teil 1
Ein großes, totes Tier trieb den Fluss herab. Auf ihm saßen einige Geier und rissen Fleisch in Fetzen aus dem Kadaver. Sie jagten alle anderen Geier in die Flucht, bis sie sich satt gefressen hatten, dann erst strichen sie ab. Die anderen aber warteten auf Bäumen und an den Ufern oder hoch über uns in der Luft, bis ihr Augenblick gekommen war. Die Sonne war eben aufgegangen, schwere Tautropfen hingen an allen Halmen. Über den grünen Feldern am anderen Ufer lag dünner Bodennebel, die stille Luft trug die Stimmen der Bauern klar und deutlich zu uns herüber. Der Morgen war wunderbar frisch und neu. Ein junges Äffchen turnte oben im Gezweig lustig um seine Mutter herum. Es rannte einen Ast entlang, sprang auf den nächsten und flitzte wieder zurück, dann hüpfte es zur Abwechslung dicht neben der Mutter auf und ab. Der wurden diese Kapriolen schließlich zu dumm, denn sie traf Anstalten, herunterzusteigen und einen anderen Baum aufzusuchen. Kaum hatte der Kleine das bemerkt, als er auch schon auf sie zustürzte, um sich mit aller Kraft an ihr festzuklammern. Zuerst setzte er sich auf ihren Rücken, dann hing er schaukelnd unter ihrem Bauch. Er hatte ein winziges Gesichtchen und Augen voller Verspieltheit und ängstlicher Lausbüberei.
Wie furchtsam meiden wir alles Neue und Unbekannte! In unserem geregelten Alltag, in der Gesellschaft seiner Gewohnheiten, Zänkereien und Kümmernisse, fühlen wir uns am wohlsten und sichersten. Wir denken am liebsten die gleichen alten Gedanken, sehen am liebsten immer dieselben Gesichter und placken uns sogar ganz gerne mit unseren gewohnten Sorgen herum. Wir scheuen die Begegnung mit fremden Menschen, und wenn wir sie nicht vermeiden können, dann benehmen wir uns distanziert und abweisend. Welcher Schreck befällt uns, wenn uns einmal ein unbekanntes Tier über den Weg läuft! Wir bewegen uns nur im wohlumhegten Bereich unseres Verstandes und wagen uns auch dann nicht über die Grenzen dieser Umzäunung hinaus, wenn wir uns einmal vom allzu Naheliegenden etwas weiter entfernen. Wir nähren in allem die Dauer und wollen nichts von einem Ende wissen. So tragen wir die Bürde des Gestern von einem Tag zum anderen, unser Leben ist eine einzige lange und ununterbrochene Wanderung, und unser Wesen wird dabei stumpf und gefühllos.
Er konnte den Tränen keinen Einhalt gebieten, immer wieder schüttelte ihn ein Schluchzen, das jeder Beherrschung oder Unterdrückung Hohn sprach. Er war ein verhältnismäßig junger Mann von aufgeschlossener Wesensart und mit einem seltsam visionären Blick. Zunächst brachte er kein einziges Wort hervor, erst nach einer ganzen Weile begann er mit zitternder Stimme zu sprechen, aber mitten in der Rede übermannte ihn wieder und wieder der Schmerz, so dass er aufs neue frei und ungehemmt zu schluchzen begann. Dies ist, was er zu berichten hatte:
»Seit dem Todestag meiner Frau habe ich nicht ein einziges Mal geweint. Ich weiß nicht, warum ich jetzt plötzlich losweinen musste, aber nun ist mir doch etwas leichter ums Herz. Als sie noch lebte, habe ich wohl auch zuweilen mit ihr geweint, und jenes Weinen wirkte ebenso reinigend wie Lachen, aber seit ihrem Tode ist alles anders geworden. Früher malte ich gern, jetzt rühre ich keinen Pinsel mehr an und kann meine Bilder nicht mehr anschauen. Seit sechs Monaten ist mir zumute, als wäre ich selbst gestorben. Wir hatten noch keine Kinder, sie erwartete ihr erstes, und jetzt ist sie fort. Ich vermag es immer noch nicht zu fassen, wir waren ja so eng und unzertrennlich verbunden. Sie war so schön und so gut – was soll jetzt mit mir werden? Entschuldigen Sie bitte meinen Ausbruch eben, Gott allein weiß, wie ich dazu kam, aber ich fühle, wie gut es mir tat, dass ich mich einmal richtig ausweinen konnte. Und doch werde ich nie mehr der sein, der ich früher war, mein Leben hat allen Glanz und alle Freude eingebüßt. Als ich neulich wieder zu meinen Pinseln griff, da waren sie mir ganz fremd und ungewohnt. Früher wusste ich kaum, dass ich einen Pinsel hielt, heute liegt er mir so schwer in der Hand, dass ich nicht damit umzugehen weiß.
Wie oft bin ich zum Strom gegangen und wollte eigentlich nicht mehr zurück, aber dann kam ich doch immer wieder. Ich konnte keinen Menschen mehr sehen, weil ich ihr Antlitz immer vor Augen hatte. Ich schlafe, ich träume, ich esse mit ihr und weiß dabei immer, dass es nie mehr so sein kann, wie es war. Wie habe ich über alles nachgegrübelt, um endlich zur Vernunft zu kommen und das Geschehene zu begreifen, aber dann überfiel mich immer wieder der Gedanke, dass sie nicht mehr da ist. Nacht für Nacht träume ich von ihr, dann wache ich auf und finde trotz aller Bemühungen keinen Schlaf mehr. Ich wage es nicht, ihre Sachen zu berühren, weil mich ihr bloßer Geruch fast wahnsinnig macht. Was habe ich nicht versucht, um zu vergessen, aber es nutzt nichts, ich kann nicht mehr der werden, der ich war. Früher lauschte ich so gern dem Gesang der Vögel, jetzt schlüge ich am liebsten alles um mich herum in Stücke. Dabei weiß ich selbst, dass es so nicht weitergehen kann. Unsere Freunde habe ich seither kein einziges Mal gesehen, seit sie nicht mehr dabei ist, sind sie mir gleichgültig geworden. Was soll ich um Gottes willen tun, um diesem Zustand ein Ende zu machen?«
Wir schwiegen lange.
Liebe, die sich in Kummer und Hass verwandeln kann, ist keine wahre Liebe. Wissen wir denn, was Liebe ist? Kann Liebe ein Gefühl sein, das sich in Wut verwandelt, wenn das Schicksal störend eingreift? Darf man von Liebe sprechen, wo gewonnen und verloren wird?
»In meiner Liebe zu ihr gab es das alles nicht. Ich vergaß ja alles um mich her, ich vergaß sogar mich selbst. Nein, meine Liebe war echt, so echt, wie Liebe sein kann, und die gleiche Liebe trage ich bis heute im Herzen. Jetzt aber ist mir auch das andere allzu gegenwärtig: meine Verlassenheit, meine Trauer und alle die endlosen Tage des Elends.«
Wie schnell verwandelt sich Liebe in Hass, in Eifersucht, in Leid! Wie traurig irren wir im Qualm umher, wie fern ist plötzlich, was einst so nah war. Was wir vergessen glaubten, das andere, jetzt ist es wieder da und erfüllt uns mit seiner Bedeutung. Wir merken auf einmal, dass wir einsam sind, dass wir keinen Gefährten mehr haben, dass uns das Lächeln fehlt und das vertraute Scheltwort. Wir wissen plötzlich wieder um uns selbst und nicht mehr allein um den Partner. Vorher war uns das Du alles, wir selbst aber nichts, jetzt ist das Du plötzlich fort, und wir sind das, was ist. Das Du ist nur noch ein Traum, was wir sind, ist Wirklichkeit.