Ehrgeiz – Teil 1

Das Kleine hatte die ganze Nacht geschrieen, obwohl die Mutter alles versuchte, um es zu beruhigen. Sie sang ihm vor, sie schalt es aus, sie liebkoste und wiegte es in ihrem Arm, aber was sie auch unternahm, nichts wollte helfen. Allem Anschein nach bekam das Kind einen Zahn, und das hatte für die ganze Familie eine schlaflose Nacht bedeutet. Aber jetzt dämmerte der Morgen über den dunklen Bäumen, und das Baby schien sich endlich zu beruhigen. Während der Himmel heller und heller wurde, umfing uns eine seltsame, fast körperlich fühlbare Stille. Die toten Äste zeichneten sich in ihrer schlanken Nacktheit scharf gegen den Himmel ab, ein Kind rief, ein Hund bellte, ein Lastwagen ratterte vorbei, der neue Tag hatte begonnen. Jetzt trat die Mutter mit ihrem Kind auf dem Arm ins Freie. Sie hatte es sorgsam eingehüllt und ging langsam die Dorfstraße entlang, um auf den Omnibus zu warten. Wahrscheinlich wollte sie ihren Kleinen zum Arzt bringen. Sie sah nach der schlaflosen Nacht recht müde und abgespannt aus, aber das Kind lag in festem Schlaf.

Bald schon tauchte die Sonne über den Baumwipfeln auf, und der Tau glitzerte auf dem grünen Gras. Weit in der Ferne pfiff ein Zug, die Berge standen kühl und in Schatten gehüllt am Horizont. Ein großer Vogel, den wir unversehens beim Brüten störten, flog geräuschvoll davon. Unser Näherkommen musste ihn überrascht haben, denn er hatte sich nicht einmal Zeit genommen, seine Eier mit dürren Blättern zu bedecken. Es waren über ein Dutzend. Obwohl sie unbedeckt waren, konnte man sie kaum erkennen, so geschickt hatte sie die Vogelmutter in ihrem Nest versteckt. Jetzt saß sie auf einem Baum und beobachtete uns von weitem. Ein paar Tage später sahen wir sie mit ihrer jungen Brut wieder, und das Nest war nun leer.

Durch den Wald führte ein kühler, schattiger Weg zum Kamm der fernen Höhe, und die Akazien standen in Blüte. Ein paar Tage zuvor hatte es heftig geregnet, der Boden federte feucht und weich unter unseren Schritten. Auf den Feldern reiften die neuen Kartoffeln, eine ganze Strecke talabwärts breitete sich die Stadt. Es war ein herrlicher, goldener Morgen. Der Weg brachte uns jenseits der Anhöhe zum Haus zurück.

Sie war eine sehr gescheite Frau. Sie hatte alle neuen Bücher gelesen, die neuesten Stücke gesehen und war sogar über eine philosophische Richtung orientiert, die gerade letzte Mode war. Natürlich hatte sie sich auch schon analysieren lassen und musste eine Menge psychologischer Literatur gelesen haben, da sie den Fachjargon dieser Wissenschaft durchaus beherrschte. Wie es schien, legte sie besonderen Wert darauf, alle Leute kennen zu lernen, von denen man sprach. Dabei hatte sie zufällig jemand getroffen, der sie hierher mitnahm. Die Sprache floss ihr leicht von den Lippen, sie verstand sich darauf, ihren Gedanken mit wohlgesetzten, wirkungsvollen Worten Ausdruck zu geben. Sie war verheiratet gewesen, aber kinderlos geblieben. So, wie sie davon sprach, hatte man sogleich das Gefühl, dass das alles weit hinter ihr lag, weil sie ihr Weg längst in ganz andere Fernen führte. Allem Anschein nach war sie reich, da sie jenes gewisse Etwas an sich hatte, das für alle wohlhabenden Menschen kennzeichnend ist. Sie schoss sofort mit ihrer ersten Frage los: »Wie wollen Sie den Menschen in der gegenwärtigen Krisis helfen?«

Es war das offenbar eine der Fragen, die sie bei jeder passenden Gelegenheit zu stellen pflegte. Dann sprach sie mit wachsendem Eifer von der Aufgabe, weitere Kriege zu verhüten, von den Auswirkungen der kommunistischen Lehre und von dem zukünftigen Schicksal der Menschheit. Sie zeigte sich sehr interessiert daran, meine Ansicht zu allen diesen Problemen kennen zu lernen.

Sind nicht Kriege, Elend und wachsende Unsicherheit in der Welt letzten Endes nur die Folgen unseres täglichen Tuns und Lassens? Sind wir nicht alle – jeder einzelne von uns – für die Krise in der Welt verantwortlich? Die Zukunft wird in der Gegenwart vorgebildet, wie soll sie viel anders werden als die Vergangenheit, wenn wir die Gegenwart nicht begreifen? Sind Sie nicht auch der Ansicht, dass jeder von uns für den Konflikt und die Wirrnisse unserer Zeit mit die Verantwortung trägt?

»Es mag so sein, aber was nützt es, wenn wir unsere Verantwortung zugeben? Welchen Wert hat mein bisschen Reden und Tun angesichts der überall in der Welt lauernden Vernichtung? Was vermöchte mein Verstand gegen die allgemeine Verbohrtheit der Menschen auszurichten? Das Weltgeschehen unserer Tage ist eine Ausgeburt abgründiger Dummheit, gegen die mein Verstand machtlos ist. Außerdem würde es viel zu lange dauern, bis sich durch die Aktionen einzelner ein Eindruck auf die Welt erzielen ließe.«

Ist denn die Welt etwas anderes als Sie? Baut sich nicht die Gesellschaft aus einzelnen Gliedern auf, zu denen auch Sie und ich gehören? Wenn ein grundlegender Wandel in der Struktur dieser Gesellschaft Zustandekommen soll, dann müssen Sie und ich uns ebenfalls grundlegend ändern. Wie könnte es zu einer Umwertung der Werte kommen, wenn wir nicht damit beginnen? Müssen wir nun etwa nach einer neuen Ideologie, einer neuen Wirtschaftsplanung Ausschau halten, wenn wir der gegenwärtigen Krisis zu Leibe rücken wollen? Oder sollen wir besser damit beginnen, dass wir des Zwiespalts und der Wirrnis in uns selbst innewerden, denn dieses Selbst in der Projektion ist ja die Welt? Können neue Ideologien Einigkeit unter den Menschen schaffen? Ist es nicht vielleicht mehr so, dass Überzeugungen von jeher die Quelle bitterster Fehden waren? Demnach ist es doch klar, dass wir gerade die ideologischen Schranken – alle Schranken sind ja ideologischer Natur – beiseite räumen müssen, um unsere Probleme endlich unmittelbar und ohne Vorurteil ins Auge fassen zu können, statt sie wie bisher im Zerrspiegel von Überzeugungen und Formeln zu betrachten. Wir sind nämlich nie in unmittelbarer Verbindung mit unseren Problemen, sondern immer nur auf dem Umweg über einen Glauben oder eine Formulierung. Dabei kommt eine echte Lösung nur zustande, wenn unsere Beziehung zu dem betreffenden Problem unmittelbar ist. Nicht die Probleme selbst stiften Feindschaft unter den Menschen, sondern die Ideen, die sie daran knüpfen. Probleme führen uns zusammen, Ideen reißen uns auseinander.