Einsamkeit – Teil 1

Ihr Sohn war erst kürzlich gestorben, und sie sagte, das Leben habe nun keinen Sinn mehr für sie. Sie habe so viel übrige Zeit, empfinde solche Langeweile und sei so müde und kummerbeladen, dass sie am liebsten selbst gestorben wäre. Ihr Sohn sei ihr Ein und Alles gewesen, sie habe ihn liebevoll, sorgsam und klug erzogen, er habe die besten Schulen besucht und sei zuletzt noch im College gewesen. Obwohl ihr alles zum Leben Nötige reichlich zur Verfügung stehe, habe sie ihn nicht verwöhnt. Sie habe ihren Glauben und ihre Hoffnung auf ihn gesetzt und ihm ihre ganze Liebe geschenkt, die er mit niemand zu teilen brauchte, da sie schon seit längerer Zeit von ihrem Mann getrennt lebe. Dieser geliebte Sohn sei nun an einer Operation gestorben, die auf einer Fehldiagnose beruhte, obwohl, wie sie wehmütig lächelnd hinzufügte, die Ärzte behauptet hätten, der Eingriff sei ›erfolgreich‹ verlaufen. Jetzt war sie allein, und das Leben erschien ihr offenbar sinn- und zwecklos. Als er tot war, hatte sie so lange geweint, bis sie keine Tränen mehr hatte und nur noch eine dumpfe, müde Leere in sich fühlte. Sie hatte sich ihre gemeinsame Zukunft in den schönsten Farben ausgemalt, jetzt aber war sie ganz und gar verloren und verlassen.

Die Brise wehte kühl und erfrischend von der See herein, und unter dem Baum herrschte eine wunderbare Ruhe. Die Berge standen in blanken Farben gegen den Himmel, und die blauen Eichelhäher waren besonders geschwätzig. Eine Kuh wanderte, gefolgt von ihrem Kalb, gemessenen Schrittes vorüber, ein Eichhörnchen raste unter aufgeregtem Geschnatter an einem Stamm hinauf. Dort saß es dann immer noch erregt scheltend, auf einem Ast. Sein Schelten wollte kein Ende nehmen, sein Schweif wippte dazu unaufhörlich auf und ab. Es hatte lebhaft glitzernde schwarze Augen, seine Pfoten waren mit nadelspitzen Krallen bewehrt. Eine Eidechse kroch aus ihrem Versteck hervor, um sich an der Sonne zu wärmen, und fing eine vorübersummende Fliege. Die Wipfel wiegten sich sachte im Wind, ein abgestorbener Baum stand stolz und kerzengerade gegen den Himmel. Die Sonne hatte ihn im Lauf der Jahre gebleicht. Neben ihm stand dunkel und gekrümmt ein zweiter toter Stamm, dessen Verfall noch nicht so weit fortgeschritten war. Zu Häupten der Berge ruhten still ein paar weiße Wolken.

Wie seltsam ist es um die Einsamkeit bestellt, wie schreckensvoll ist sie für unser Bewusstsein! Wir wagen es nicht, ihr zu nahe zu kommen, und wenn es uns dennoch einmal widerfährt, dann fliehen wir sie Hals über Kopf. Um der Einsamkeit zu entgehen oder uns davor zu verstecken, sind wir zu allem bereit. Ein bewusstes oder unbewusstes Vorurteil scheint der Grund dafür zu sein, dass wir sie so ängstlich meiden oder zu überwinden suchen. Dabei ist das eine wie das andere ein vergebliches Beginnen. Ob wir sie künstlich unterdrücken, ob wir keine Notiz von ihr nehmen, der Schmerz, das Problem bleibt bestehen. Du kannst dich in der Masse Mensch verlieren und dabei doch völlig einsam sein, du magst Tag und Nacht tätig sein, und doch schleicht sich die Einsamkeit leise an dich heran; lege dein Buch, deine Arbeit weg, und sie ist da. Vergnügungen und Alkohol können ihr nicht den Garaus machen, vielleicht schlägst du ihr durch solche Mittel für Stunden oder Tage ein Schnippchen, ist aber erst das Gelächter verklungen und der Alkohol verraucht, dann überfällt sie dich wieder mit ihrer Angst. Du magst ehrgeizig und erfolgreich sein, magst gewaltige Macht über andere in Händen haben, magst reich an Wissen sein, magst als frommer Mensch in der Wortflut eines Rituals Vergessen suchen, das alles kann dir nichts helfen, das Weh der Einsamkeit will nicht weichen. Und wenn du nur für deinen Sohn, für den großen Meister oder für die Früchte deiner eigenen Begabung lebst, so kann es dir doch geschehen, dass sich die Einsamkeit wie eine finstere Nacht auf dich herabsenkt. Du magst je nach Veranlagung und seelischem Bedürfnis lieben oder die Liebe meiden, hassen oder den Hass unterdrücken, ganz gleich, die Einsamkeit ist da, sie zieht sich vielleicht zuweilen zurück, aber dann liegt sie nur sprungbereit auf der Lauer, um dich im nächsten Augenblick zu überfallen.

Sich einsam fühlen, heißt seines Abgesondertseins innewerden – leistet aber nicht unser ganzes Tun und Treiben der Absonderung des Ichs Vorschub? Unsere Gedanken und Gefühle sind zwar auf die Umwelt gerichtet, aber wirken sie, so wie sie sind, nicht eher abstoßend und trennend als einigend? Sind wir nicht darauf bedacht, in jeder unserer Beziehungen unser Übergewicht, unser Recht, unseren Besitz zur Geltung zu bringen, und fordern wir damit nicht zum Widerstand heraus? Betrachten wir nicht schon die Arbeit als ›deine‹ und ›meine‹? Binden wir uns nicht an Kollektive, Vaterländer oder ›die Wenigen, die unseresgleichen sind‹? Ist es nicht unser ganzes Bestreben, uns abzusondern, die Menschen zu teilen und voneinander zu trennen?