Der geistige Führer – Teil 1
Er sagte, sein Guru sei zu erhaben, als dass man ihn beschreiben könne, er selbst habe seit vielen Jahren als Schüler zu seinen Füßen gesessen. Dieser Meister, fuhr er fort, wende bei der Vermittlung seiner Lehren eine brutale Schockmethode an, die darin bestehe, dass er hässliche, ja beleidigende Worte gebrauche und sogar Dinge tue, die zu den von ihm verkündeten Grundsätzen in scharfem Widerspruch stünden. Er fügte hinzu, dass sehr bedeutende Leute zu den Anhängern jenes Mannes gehörten. Gerade durch die Grobheit seiner Lehrweise bringe er die Menschen zum Nachdenken, er erreiche damit, dass sie die Ohren spitzten und aufmerkten. Leider sei dieses Verfahren notwendig, weil die meisten Menschen schliefen und immer wieder wachgerüttelt werden müssten. In Verfolgung dieser Absicht versteige sich sein Guru sogar dazu, die hässlichsten Dinge über Gott zu sagen, außerdem müssten sich seine Schüler daran gewöhnen, ziemlich viel zu trinken, da er selbst bei jeder Mahlzeit eine Menge geistiger Getränke zu sich nehme. Bei alledem offenbarten seine Lehren eine unergründliche Tiefe und Weisheit, er habe sie früher geheimgehalten, jetzt aber seien sie jedermann zugänglich.
Die herbstliche Abendsonne strömte durch das Fenster herein, der Lärm der belebten Straße drang zu uns herauf. Die Blätter trugen ihr leuchtendes Totengewand, die Luft war frisch und von durchdringender Kühle. Auch über dieser Stadt lag jene seltsam bedrückte, unsagbar traurige Stimmung, die allen großen Menschensiedlungen gemeinsam ist und die sogar nicht zu dem heiteren Licht der Abendstunde passen wollte. Die gekünstelte Fröhlichkeit des Getriebes trug erst recht zu dieser Niedergeschlagenheit bei. Wir scheinen schon ganz vergessen zu haben, was es heißt, natürlich zu sein und ungehemmt hinauszulachen, unsere Gesichter verschließen sich voreinander in Sorge und Angst. Aber die Blätter leuchteten in der Sonne, und eine weiße Wolke schwamm vorüber.
Selbst in sogenannten geistigen Bewegungen behält die gesellschaftliche Stufenleiter ihre Bedeutung. Mit welchem Eifer wird eine Persönlichkeit von Rang und Namen auch dort begrüßt und zu den Ehrenplätzen geleitet! Wie geschäftig drängt sich das Gefolge um den großen Mann! Unser Hunger nach Auszeichnungen und Titeln ist wirklich unstillbar! Und dieses Verlangen nach äußeren Ehren nennen wir dann kühn geistiges Wachstum, wir unterscheiden die Nahen und die Fernen, wir schaffen die Hierarchie, den Meister und den Eingeweihten, den Schüler und den Novizen. In der Welt des Alltags ist dieses Verlangen offenkundig und einigermaßen verständlich, wenn aber die gleiche Haltung in eine Welt übertragen wird, in der diese dummen Unterschiede keinerlei Bedeutung haben können, dann beweist das deutlicher als alle Worte, dass Begierden und Gelüste unserem Wesen ihren unauslöschlichen Stempel aufdrücken. Es ist eitles Beginnen, sich von Stolz und Einbildung freimachen zu wollen, ohne vorher innezuwerden, wie es um unser Begehren bestellt ist.
»Aber«, fuhr er fort, »wir brauchen doch Führer, Gurus, Meister. Sie selbst mögen über ihnen stehen, aber wir gewöhnlichen Sterblichen können sie nicht entbehren, wir kämen uns vor wie verlorene Schafe, wenn wir sie nicht hätten.«
Was uns veranlasst, einen politischen oder geistigen Führer zu erwählen, ist unsere eigene Geistesverwirrung, und darum ist diese Wirrnis bei dem Erwählten nicht geringer als bei uns selbst. Wir möchten geschmeichelt und getröstet sein, wir verlangen, dass man uns Mut macht und uns belohnt, darum wählen wir den als Lehrer, der uns gibt, was wir begehren. Was wir suchen, ist nie die Wahrheit, denn im Grunde sind wir nur hinter Anerkennung und Eindrücken her. Indem wir uns einen Lehrer, einen Meister zulegen, erweisen wir unserem Ich und seiner Selbstverherrlichung einen großen Dienst, denn dieses Ich wäre in Angst und Wirrnis verloren, wenn ihm seine Nichtigkeit zum Bewusstsein käme. Wenn wir keinen persönlichen Lehrer haben, dann schaffen wir uns selber einen, der irgendwo in der Ferne ein verborgenes, geheimnisvolles Dasein führt. Ein Lehrer aus Fleisch und Blut ist immerhin den verschiedensten Körperzuständen und Seelenstimmungen unterworfen, der selbsterfundene dagegen ist ein Geschöpf unserer eigenen Phantasie, ein selbstverfertigtes Ideal. Beide aber sind das Ergebnis unserer Wahl, und jede Wahl beruht auf Vorliebe oder Vorurteil.
Wir möchten unserem Vorurteil nur zu gern einen Namen geben, der uns achtbar und angenehm in den Ohren klingt, aber damit ändern wir nichts an der Tatsache, dass Gelüste und Geistesverwirrung unsere Wahl bestimmen. Wenn uns um Dank und Anerkennung zu tun ist, finden wir natürlich, was wir begehren, aber dann sollten wir wenigstens nicht behaupten, dass wir allein nach Wahrheit streben. Die Wahrheit kann sich erst entfalten, wenn alles Begehren nach Anerkennung und eindrucksvollem Erleben ein Ende hat.
»Sie haben mich nicht davon überzeugen können, dass ich keinen Meister brauche«, sagte er.
Über die Wahrheit lässt sich nicht streiten, sie ist weder Sache der Überzeugung noch das Ergebnis einer bestimmten Meinung.