Zwiespalt und Ausgleich – Teil 1

Er war gewiss ein kluger und tatkräftiger Mann, ein paar ausgewählte Bücher bildeten seine Lieblingslektüre. Obwohl verheiratet, war er alles andere als ein Familienvater. Er bezeichnete sich selbst als einen Idealisten, einen Arbeiter für das Gemeinwohl. Man hatte ihn aus politischen Gründen eingesperrt, und er besaß eine Menge Freunde. Es lag ihm nicht das mindeste daran, sich oder der Partei, mit der er sich auf Gedeih und Verderb verbunden fühlte, in der Öffentlichkeit Rang und Namen zu verschaffen. Seine ganze Leidenschaft war die Arbeit für das allgemeine Wohl, die einer glücklicheren Menschheit den Weg bereiten sollte. Man konnte ihn mit Fug als durch und durch religiösen Menschen bezeichnen, dabei waren ihm Gefühlsduselei und Aberglauben völlig fremd, er glaubte weder an eine bestimmte Lehre noch an irgendein Ritual.

Was ihn zum Kommen veranlasst hatte, war der Wunsch, sich über das Problem der Gegensätzlichkeit Klarheit zu verschaffen, die ihm nicht nur bei sich selbst, sondern auch in der Natur und in der Welt im allgemeinen immer wieder vor Augen trete. Es scheine ihm, als ob diese Gegensätzlichkeit etwas Unabdingbares sei: man müsse sich damit abfinden, dass es kluge und dumme Menschen gebe, dass sich die eigenen Wünsche so oft auf Entgegengesetztes richteten, dass das Wort zur Tat und die Tat zum Denken in Widerspruch stünden. Er wenigsten habe diese Gegensätzlichkeit bis jetzt noch überall vorgefunden.

Mit allem und jedem übereinstimmen, heißt gedankenlos sein. Es ist natürlich leichter, linientreu und ohne Abweichung einer vorgeschriebenen Norm nachzuleben, sich vorbehaltlos einer Ideologie oder einer Überlieferung anzupassen, als die allzu leicht schmerzhaften Folgen eigenen Denkens auf sich zu nehmen. Gehorsam gegenüber einer äußeren oder inneren Autorität macht alles Fragen überflüssig und ersetzt uns das eigene Denken samt aller Angst und Unruhe, in die es uns stürzt. Treue zu unseren eigenen Überzeugungen, Erfahrungen und Entschlüssen überhebt uns aller inneren Gegensätze, wir bleiben im Einklang mit unseren Vorsätzen und gehen unbeirrbar und entschlossen den einmal gewählten Weg. Versuchen wir nicht fast alle, unser Leben so einzurichten, dass es nicht allzu stürmisch verläuft und dass wir uns wenigstens seelisch einigermaßen geborgen fühlen? Bewundern wir nicht jeden, dem das wirklich gelingt? Mehr noch, wird er uns nicht zum leuchtenden Vorbild, das uns verehrungswürdig und nachahmenswert erscheint? Einem Ideal nachzueifern, kostet zwar Mühe und Selbstüberwindung, das kann aber nichts daran ändern, dass wir es im großen und ganzen doch als schön und beglückend empfinden, da ja schließlich alle Ideale unserem eigenen Ich entstammen und von ihm vorgebildet sind.

Wir wählen uns also unseren geistlichen oder weltlichen Helden und folgen ihm nach. Der Wunsch, es dem Vorbild gleichzutun, gibt uns eine erstaunliche Kraft und Ruhe, weil wir uns als ehrlich Strebende geborgen fühlen. Aber diese Ehrlichkeit ist nicht mit Einfachheit des Wesens zu verwechseln, und ohne Einfachheit gibt es keine wahre Einsicht. Anpassung an eine wohldurchdachte Norm des Verhaltens kommt unserem Drang nach Vollendung entgegen, und jeder Schritt vorwärts auf diesem Wege schenkt uns ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit. Das Aufrichten eines Ideals und das Streben, ihm immer naher zu kommen, ruft allerdings Widerstand auf den Plan, und der Angleichung an das Ideal ist überdies durch die anerkannten Normen eine Grenze gezogen. Aber Anpassung bietet nun einmal Sicherheit und Geborgenheit, darum halten wir trotz allem so verzweifelt daran fest.

Im Widerspruch zu sich selbst zu leben, schafft Konflikte und Kummer. Das Ich ist aus Widersprüchen zusammengesetzt, es besteht aus vielen Wesenheiten in verschiedener Verkleidung, und jede von ihnen steht im Gegensatz zu den anderen. Das ganze Gefüge des Ichs ist das Ergebnis einander widerstreitender Interessen und Werte sowie vieler höchst unbeständiger Begierden in den verschiedensten Schichten seiner Existenz. Und jede dieser Begierden erzeugt zu allem Überfluss auch noch ihr eigenes Gegenteil. Das Ich ist also ein wahres Netzwerk ineinander verwobener Begierden, deren jede ihre eigene Schwungkraft und ihr eigenes Ziel besitzt, oft genug in schroffem Gegensatz zu allen anderen Hoffnungen und Bestrebungen. Je nach der Anregung oder dem Reiz des Augenblicks kleidet sich das Ich bald in das eine, bald in das andere dieser ›Wunschkostüme‹, und daraus ergibt sich natürlich eine Fülle innerer Widersprüche.

Diese Gegensätze in uns selbst sind die Brutstätten von Illusionen und Schmerzen, denen wir durch alle erdenklichen Selbsttäuschungen zu entgehen suchen, ohne damit jedoch etwas anderes zu erreichen als eine Verschärfung unserer Konflikte und unseres Elends. Wird der innere Widerspruch unerträglich, dann flüchten wir uns bewusst oder unbewusst in den Tod oder in den Wahnsinn, dann retten wir uns in die Hingabe an eine Idee, eine Partei, ein Volk, irgendeine Tätigkeit, die uns mit Haut und Haaren verschlingt, dann finden wir vielleicht Halt in einer organisierten Religionsgesellschaft mit ihren Dogmen und Riten.