Ablenkung – Teil 1

Ein langer, breiter Kanal führte vom Strom her in ein Gebiet, in dem es kein Wasser gab. Der Kanal hatte ein höheres Niveau als der Strom, sein Wasserstand wurde durch ein Schleusensystem reguliert. Am Ufer dieses Kanals war es wunderbar ruhig und friedlich, schwer beladene Kähne glitten langsam vorüber, ihre weißen dreieckigen Segel standen hell gegen den blauen Himmel und die dunklen Palmen. Der Abend war köstlich still und klar, die Wasserfläche dehnte sich glatt und reglos zu unseren Füßen. Palmen und Mangobäume spiegelten sich in ihr mit solcher Schärfe und Deutlichkeit, dass es schwer fiel, Echtes und Gespiegeltes auseinander zu halten. Die sinkende Sonne verlieh dem Wasser eine seltsame Transparenz, und der Abendhimmel übergoss es mit seiner Glut. Zwischen den Spiegelbildern der Bäume blinkte schon der Abendstern. Das Wasser war ohne jede Bewegung, und die Bewohner des Dorfes, die unterwegs immer so laut und eifrig zu schwatzen pflegten, kamen heute schweigend vorüber. Selbst das Geflüster der Blätter hatte ganz aufgehört, von der Wiese her kam irgendein Tier zur Tränke und verschwand dann wieder so leise, wie es gekommen war. Stille hielt das ganze Land umfangen und schien Lebendiges und Totes in ihren weiten Mantel zu hüllen.

Aller Lärm endet, Stille ist durchdringend und ohne Ende. Vom Lärm kann man sich abschließen, aber vor der Stille gibt es kein Entkommen, keine Mauer schließt sie aus, ihr kann nichts widerstehen. Lärm versperrt allem den Zutritt, er trennt und sondert ab, Stille nimmt alles in sich auf, sie ist wie die Liebe unteilbar, sie kennt keine Trennung von Schweigen und Lärm. Unser Denken kann sie weder erjagen noch kann es still gemacht werden, um sie zu empfangen. Ein still gemachter Geist kann nur seine eigenen Wunschbilder widerspiegeln, und die sind scharf und klar und aufdringlich in ihrem ›Für-sich-sein‹. Ein still gemachter Geist kann nur widerstreben, und alles Widerstreben ist Gärung. Nur ein Geist, der still ist und nicht still gemacht wurde, erlebt ohne Unterlass das große Schweigen, für ihn sind alle Gedanken, alle Worte in dieses Schweigen miteinbezogen, sie stehen nicht mehr außerhalb des Schweigens. Es ist seltsam, wie ruhig alles Denken in dieser Stille ist, seine Ruhe ist durch kein künstliches Mittel erzeugt oder irgendwie errungen. Diese Art der Gedankenruhe hat keinen Marktwert und ist für keine Zwecke zu gebrauchen, darum besitzt sie alle Merkmale der Reinheit und der Einzigkeit. Was benutzt werden, was dienen kann, ist rasch verbraucht. Wahre Ruhe des Geistes hat weder Beginn noch Ende, wer in ihr lebt, hat Teil an einer Seligkeit, die nicht nur das Spiegelbild des eigenen Begehrens ist.

Sie sagte, sie könne sich von jeher über jede Kleinigkeit furchtbar erregen; wenn ihr die Familie keinen Anlass dazu gebe, dann sei es der Nachbar oder irgendeine Begebenheit in ihrem Bekanntenkreis. Ihr Leben sei voller Aufregungen, aber sie sei bisher nicht imstande gewesen, die Ursache dieser aufwühlenden Zustände ausfindig zu machen. Von Glück wisse sie nicht viel, wie sollte das bei den herrschenden Verhältnissen auch anders sein. Früher habe sie wohl ein flüchtiges Glück kennengelernt, aber das sei alles längst vorüber, leider suche sie bis jetzt vergeblich nach einer Aufgabe, die ihrem Leben einen Sinn geben könne. Dabei habe sie schon mancherlei aufgegriffen, das ihr jeweils der Mühe wert schien, aber was sie auch begonnen habe, sei ihr jedes Mal wieder in den Händen zerronnen. Sie habe allerlei wirklich ernste Sozialarbeit geleistet und sei von glühender religiöser Gläubigkeit erfüllt gewesen, der Tod habe Lücken in ihre Familie gerissen, die sie bis heute nicht verwinden könne, und zu alledem habe sie sich einer schweren Operation unterziehen müssen. Ihr Leben, meinte sie, sei also alles andere als leicht gewesen, und Millionen anderer Menschen in der Welt hätten wohl ein ähnliches Schicksal. Jetzt aber wolle sie sich endlich über dieses ganze teils törichte, teils wohl notwendige Getriebe erheben und ein Lebensziel finden, das anzustreben sich wirklich lohne.

Was sich lohnt, was der Mühe wert ist, lässt sich nicht finden und nicht erkaufen. Es muss uns zufallen, und dieser Zu-fall kann weder klug geplant noch berechnet werden. Ist es nicht eine bekannte Wahrheit, dass uns alles wirklich Bedeutsame im Leben zufällt und nicht mit Absicht herbeigeführt werden kann? Daher ist nicht das Finden, sondern allein das Zufallen wichtig. Finden ist verhältnismäßig einfach, um das Zufallen steht es erheblich anders. Nicht dass es schwierig wäre aber der Drang, zu suchen und zu finden, muss völlig aufhören, damit das ›von Ungefähr‹, der Zu-fall, eintreten kann. Finden setzt verlieren voraus, und man muss etwas besitzen, um es verlieren zu können. Besitzen aber und besessen sein, raubt uns die Freiheit, die Voraussetzung aller Erkenntnis ist.

Woher kommt aber Ihre Erregbarkeit und Unrast? Haben Sie wirklich schon im Ernst danach geforscht?

»Ganz ernst war es mir wohl nicht damit, ich war immer nur mit halbem Herzen dabei. Jedes Mal, wenn ich mich damit befassen wollte, wurde ich durch irgend etwas abgelenkt.«

Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen widerspreche. Sie wurden nicht abgelenkt, sondern das Problem war Ihnen einfach nicht wichtig genug. Hat man es mit einem lebenswichtigen Problem zu tun, dann lässt man sich nicht davon ablenken. Das, was man allgemein mit Ablenkung bezeichnet, gibt es nämlich nicht. Ablenkung setzt doch ein zentrales Interesse voraus, von dem das Denken angeblich abwandert. Angeblich – denn wenn ein zentrales Interesse wirklich gegeben ist, dann kommt kein solches Abwandern, keine Ablenkung vor. Das Wandern des Denkens von einem Gegenstand zum anderen ist keine Ablenkung, sondern nur ein Trick, um dem, was ist, auszuweichen. Wir schweifen deshalb so gern in die Ferne, weil uns unsere Probleme so nah auf den Leib gerückt sind. Dieses Wandern gibt uns ebenso zu tun, wie unsere Sorgen und unser Klatsch, es kann oft recht weh tun, dennoch ist es uns lieber als das, was ist.