Weisheit ist kein angehäuftes Wissen – Teil 1

Die Hütte lag hoch in den Bergen, um sie zu erreichen, musste man im Wagen die weite Wüste durchqueren. Die Straße führte durch viele Orte, vorüber an üppigen Orangenhainen und reichen Höfen, die durch Bewässerungsanlagen und harte Arbeit der Wüste abgerungen waren. Ein Städtchen war besonders schön, dort gab es grüne Wiesen und hohe, schattige Bäume, weil es dicht an einem Fluss lag, der von den Bergen herabkam und mitten durch das Herz der Wüste strömte. Jenseits dieses Städtchens strebte die Straße den schneebedeckten Gipfeln zu und folgte dabei dem Lauf des Flusses, der in rauschenden Wasserfällen zu Tal schoss. Der Boden war hier felsig, nackt und von der Sonne ausgebrannt, nur an den Ufern gedieh noch üppiger Baumwuchs. Die Straße wand sich in unzähligen Kurven höher und immer höher bergan, sie führte durch Wälder uralter Fichten, die in der Sonnenwärme ihren köstlichen Duft verströmten. Je höher wir kamen, desto kühler und frischer wurde die Luft, aber da lag auch schon die Hütte – wir waren am Ziel.

Ein schwarz-rotes Eichhörnchen hatte sich schon nach ein paar Tagen so an uns gewohnt, dass es ohne Scheu herbeikam und sich aufs Fensterbrett setzte, um uns ein bisschen auszuschelten. Es wollte unbedingt Nüsse haben. Offenbar war es noch von jedem Besucher gefüttert worden, aber um diese Zeit gab es hier wenig Gäste, und das Tierchen war eifrig darauf bedacht, Vorräte für den kommenden Winter zu sammeln. Dieses Eichhörnchen machte uns wegen seines lebhaften, lustigen Wesens besonderen Spaß, dabei war es ständig auf dem Sprung, so viel zu erraffen, wie es nur bekommen konnte, um für die langen schneereichen Monate, die vor ihm lagen, möglichst gut versorgt zu sein. Seine Behausung war ein hohler, wohl schon vor vielen Jahren abgestorbener Baum. Es griff sich eine Nuss, raste zu dem dicken Stamm hinüber, kletterte geräuschvoll scheltend und drohend daran in die Höhe und verschwand in einem Loch. Bald darauf kam es mit solcher Geschwindigkeit wieder herabgesaust, dass man meinte, es müsse stürzen, das kam aber kein einziges Mal vor. Auf diese Art nahm es uns an einem einzigen Vormittag einen ganzen Sack Nüsse ab, allmählich wurde es immer zutraulicher und kam nun schon bis ins Zimmer herein. Sein Fellchen glänzte, und seine schwarzen Perlaugen funkelten, es hatte nadelspitze Krallen und einen dicken, buschigen Schweif. Dieses fröhliche, tonangebende kleine Geschöpf war offenbar der Überzeugung, dass ihm die ganze Umgebung unserer Hütte allein gehöre, denn es jagte jedes andere Eichhörnchen, das sich in die Nähe wagte, sofort in die Flucht.

Er war ein angenehmer, umgänglicher Mensch, seine ganze Leidenschaft war die Weisheit, die er zu sammeln trachtete, wie unser Eichhörnchen seine Nüsse. Obwohl er nicht besonders wohlhabend war, musste er viel gereist sein, da er eine Menge Menschen aus den verschiedensten Ländern zu kennen schien. Außerdem hatte er bestimmt eine Menge gelesen, denn er hatte jederzeit Zitate aus den Schriften irgendeines Philosophen oder Heiligen zur Hand. Er sagte, er könne Griechisch lesen, und hatte sogar eine Ahnung von Sanskrit. Mit zunehmendem Alter hatte sich sein Eifer, Weisheit zu erwerben, nur noch vermehrt.

Kann man Weisheit überhaupt erwerben?

»Warum denn nicht? Weisheit gewinnt man in erster Linie durch Erfahrung, dazu kommt das Wissen als zweite, ebenso wichtige Quelle.«

Kann ein Mensch weise sein, der Wissen und Erfahrung angehäuft hat?

»Alles Leben ist ein Mehren, ein stufenweiser Aufbau des Wesens, eine langsame Entfaltung. Erfahrung ist schließlich nichts anderes als gehäuftes Wissen. Wissen aber ist die Voraussetzung jeder Erkenntnis.«

Stammt Erkenntnis wirklich aus dem Wissen, aus der Erfahrung? Wissen ist der Niederschlag der Erfahrung, des in der Vergangenheit gesammelten Stoffes. Was wir Wissen oder Bewusstsein nennen, ist immer das Vergangene – kann aber Vergangenes je wirklich erkennen? Kommt wahre Erkenntnis nicht gerade in jenen kostbaren Augenblicken über uns, da alles Denken still ist? Kann etwa unser Bemühen, diese Augenblicke der Stille zu verlängern oder zu mehren, zu irgendeiner Erkenntnis führen?

»Ohne immerwährendes Mehren und Häufen könnten wir überhaupt nicht existieren, es gäbe dann keine Kontinuität des Denkens und des Handelns. Unser Charakter, unsere Tugenden sind Ergebnisse des Sammelns. Unser ganzes Leben ist doch ein Sammeln. Wenn ich die Zusammensetzung dieses Motors nicht kennen würde, wäre ich außerstande, ihn zu verstehen. Wenn ich nichts vom Aufbau eines Musikstückes wüsste, wäre ich unfähig,, seine Schönheit auszuschöpfen. Nur seichte Menschen genießen die Musik. Um sie wirklich würdigen zu können, muss man wissen, wie sie gemacht, komponiert wird. Wir können nichts würdigen, ohne zu wissen, was dahinter steckt. Ohne die nötigen Grundlagen zu sammeln und zu mehren, gelangt man auch nicht zur Erkenntnis und damit zur Weisheit.«

Wenn man entdecken will, muss man doch frei sein, nicht wahr? Wenn Sie gebunden sind und von einer Last zu Boden gedrückt werden, können Sie nicht weit gehen. Wo bleibt die Freiheit, wenn Sie die Last gesammelten Wissens und gehäufter Erfahrung auf den Schultern tragen? Wer sammelt, ganz gleich, ob Geld oder Wissen, der ist niemals frei. Mit Geldgier haben Sie persönlich nichts zu schaffen, aber glauben Sie mir, die Gier nach Wissen ist nicht minder Sklaverei, auch sie hält Sie in Fesseln. Wie könnte ein Mensch, der an irgendeine Form und Erwerb gebunden ist, je in die Ferne schweifen und Unbekanntes entdecken? Kommt Tugend wirklich durch Sammeln und Mehren zustande? Kann denn ein Mensch, der seine Tugend mehrt, je wirklich tugendhaft sein? Tugend ist doch Freiheit von allem ›Werden‹. Auch Charakter kann sehr wohl Knechtschaft sein. Echte Tugend ist niemals Knechtschaft, wohl aber alles Mehren und Häufen.