Weisheit ist kein angehäuftes Wissen – Teil 2

»Wie soll man ohne Erfahrung zur Weisheit gelangen?«

Weisheit und Wissen sind zwei grundverschiedene Dinge. Wissen ist gehäufte Erfahrung, es ist der Fortbestand jener Erfahrung, die sich als Erinnerung niedergeschlagen hat. Die Erinnerung kann gepflegt, gekräftigt, geformt und zurechtgestutzt werden. Sollte also die Weisheit wirklich nur angewandte und erweiterte Erinnerung sein? Kann denn Weisheit etwas sein, das Dauer besitzt? Wir haben doch den gehäuften Wissensschatz von Jahrtausenden zur Verfügung, aber macht uns dieser Reichtum etwa weise, glücklich oder schöpferisch? Hat Wissen schon einen einzigen Menschen glückselig gemacht? Wissen ist gehäufte Erfahrung, aber es ist kein Erleben, es verhindert im Gegenteil alles Erleben. Die Mehrung der Erfahrung ist ein kontinuierlicher Vorgang, der durch jede zusätzliche Erfahrung vorangetrieben wird, insofern jede Erfahrung die Erinnerung weckt und belebt. Ohne diese ständige Anregung zum Reagieren würde die Erinnerung sehr bald verblassen. Alles Denken ist Erinnerung, ist Wort, ist ein Mehrer der Erfahrung. Wie das Bewusstsein, so gehört auch das Erinnern ganz der Vergangenheit an. Diese Last des Gewesenen ist der Verstand, ist das Denken. Der Verstand ist die Summe des Gesammelten und Gehäuften, wie sollte er also je die Freiheit besitzen, die nötig wäre, um das Neue zu entdecken? Der Verstand muss schweigen, wenn das Neue werden soll.

»Bis zu einem gewissen Punkt komme ich damit zurecht, es will mir nur nicht in den Kopf, wie man ohne Denken zu Erkenntnissen gelangen soll.«

Ist Erkennen, Innewerden, ein Vorgang, der sich aus Vergangenem herleitet? Spielt er sich nicht vielmehr immer in der Gegenwart ab? Innewerden heißt Wirken in der Gegenwart. Haben Sie noch nicht an sich selbst bemerkt, dass wahre Erkenntnis ›ein-leuchtet‹ wie der Blitz, dass sie also mit der Zeit nichts gemein haben? Oder kommen Ihnen Ihre Einsichten etwa allmählich? Echtes Erkennen, das ein Innewerden ist, vollzieht sich doch immer unmittelbar, im Jetzt, nicht wahr? Das Denken dagegen ist eine Ausgeburt des Gewesenen, es beruht ganz ganz und gar auf der Vergangenheit und ist eine Reaktion der Vergangenheit. Die Vergangenheit, das Gewesene, ist die Summe des Gehäuften, und das Denken ist die Reaktion des Gehäuften. Wie könnte also der Verstand jemals zur Erkenntnis gelangen? Ist Erkennen etwa ein bewusster Vorgang? Können Sie den Vorsatz fassen zu erkennen? Ebenso gut könnten Sie sich etwa vornehmen, die Schönheit eines Abends zu genießen.

»Ist denn Erkennen keine Frucht bewussten Strebens?«

Was verstehen wir denn unter bewusst? Was sind Sie bewusst? Ist dieses Bewusst-sein nicht die Reaktion auf eine Herausforderung, einen Reiz, der Lust oder Unlust verursacht? Diese Reaktion ist kein Erleben, sondern ein Erfahren. Erfahren heißt benennen, bezeichnen, einordnen. Ohne Benennung gäbe es kein Erfahren, nicht wahr? Dieser ganze Vorgang: herausgefordert werden, reagieren, benennen, erfahren ist doch das Bewusstsein. Bewusst-sein heißt also der Vergangenheit bewusst sein, und alles bewusste Streben, der Wille, zu erkennen, zu sammeln, zu mehren, der Wille, etwas zu sein, ist nur fortgeführte, in die Zukunft hineingetriebene Vergangenheit, die dabei vielleicht einen gewissen Wandel erfährt, aber doch immer bleibt, was sie ist, Vergangenheit. Wenn wir danach streben, etwas zu sein oder zu werden, dann ist dieses Etwas nur ein Entwurf, eine Vorstellung unseres Ichs. Wenn wir uns bewusst um Erkenntnis bemühen, dann hören wir nur den Lärm unserer angehäuften ›Errungenschaften‹, und dieser Lärm schließt alles wahre Erkennen, alles Innewerden aus.

»Was ist denn dann Weisheit?«

Weisheit beginnt, wo Wissen endet. Wissen hat Dauer, ohne Dauer gibt es kein Wissen. Was Dauer hat, kann niemals frei, kann niemals neu sein. Frei ist nur, was ein Ende hat. Wissen kann niemals neu sein, es wird immer wieder das Alte. Das Alte verschlingt unaufhörlich das Neue und gewinnt dadurch immer wieder an Kraft. Das Alte muss aufhören, damit sich das Neue entfalten kann.

»Das heißt mit anderen Worten, dass das Denken ein Ende haben muss, damit die Weisheit freie Bahn habe. Aber wie setzt man dem Denken ein Ende?«

Zucht, Übung oder Zwang irgendwelcher Art sind keine geeigneten Mitteln, das Denken zu zügeln. Der Denker ist nämlich mit seinem Denken identisch, er ist  das Denken und kann daher nicht gegen sich selbst ankämpfen. Wenn er es dennoch zu tun glaubt, dann gibt er sich nur einer Selbsttäuschung hin. Er ist also selbst das Denken, er ist nicht von seinen Gedanken zu trennen. Wenn er meint, er sei etwas anderes, wenn er sich von seinen Gedanken distanziert, dann ist das nur ein geschickter Trick des Denkens, das sich selbst Bestand verleihen möchte. Wenn also das Denken selbst versucht, dem Denken ein Ende zu machen, dann stärkt es sich im Endeffekt nur selbst. Das Denken mag anstellen, was es will, es kann sich nicht selbst ein Ende machen. Wenn Sie der Wahrheit dieser Feststellung innewerden, dann geht das Denken ganz von selbst zu Ende. Freiheit wird uns nur zuteil, wenn wir der Wahrheit alles Seienden innewerden, Weisheit aber ist das vorbehaltlose, unbefangene Ja‹ zu dieser Wahrheit. Das, was ist, das Seiende, ist niemals statisch, darum müssen wir von allen statischen, angehäuften ›Errungenschaften‹ frei sein.