Gelehrt oder weise? – Teil 1
Der große Regen hatte den Staub und die Hitze vieler Monate weggewaschen, die Blätter waren wieder wie blank geputzt, und das junge Grün begann zu sprießen. Die ganze Nacht hindurch ließen unzählige Frösche ihr dumpfes Gequake hören, ab und zu nur gönnten sie sich eine kurze Pause, dann aber setzten sie ihr Konzert sogleich wieder fort. Der Strom glitt rasch dahin, und die Luft war weich und feucht. Die Regenfälle waren noch keineswegs vorüber. Wieder brauten sich dunkle Wölken zusammen, und die Sonne hatte sich dahinter versteckt. Die Erde, die Bäume, die ganze Natur schien auf ein neues Reinigungsbad zu warten. Der Weg war dunkelbraun, Kinder spielten in den Pfützen, sie backten Kuchen aus Sand oder bauten Schlösser und Häuser, die sie mit dicken Mauern umzogen. Nach den langen heißen Monaten lagen Freude und Verlockung in der Luft und frisches Grün begann sich bereits über die Erde zu breiten. Alles wurde neu.
Dieses Neuwerden ist Unschuld.
Der Mann hielt sich für äußerst gelehrt, und Wissen schien den ganzen Inhalt seines Lebens auszumachen. Ein Leben ohne Kenntnisse wäre schlimmer für ihn gewesen als der Tod. Sein Wissen beschränkte sich nicht auf einige wenige Gegenstände, er zeigte sich vielmehr auf allen erdenklichen Gebieten des Lebens erstaunlich gut unterrichtet und sprach mit der Sicherheit des gewiegten Kenners über das Atom wie über den Kommunismus, über Astronomie wie über die jährliche Wasserführung des Stroms, über Diätfragen wie über das Problem der Überbevölkerung. Sein Wissen war offenbar sein ganzer Stolz, er verstand sich darauf, es wie ein geschickter Regisseur so eindrucksvoll vor seinen Zuhörern auszubreiten, dass es diesen vor Respekt die Sprache verschlug. Wissensfülle hat für die Menschen etwas Beängstigendes, darum begegnen sie dem Wissenden stets mit besonderer Achtung und Ehrfurcht. Sein Englisch war zuweilen schwer zu verstehen. Er hatte nämlich seine Heimat noch nie verlassen, besaß aber dort eine Menge ausländischer Bücher. Wissen war seine ganze Leidenschaft, er frönte ihm wie andere dem Alkohol, dem Kartenspiel und ähnlichen Genüssen.
»Was ist Weisheit, wenn sie nicht auf Wissen beruht? Und Sie sagen, man solle alles Wissen abschaffen! Ist denn Wissen nicht das Allerwichtigste? Wo wären wir, wenn wir es nicht besäßen? Dann lebten wir heute noch wie die Urmenschen, wir hätten keine Ahnung von der erstaunlichen Welt, in der wir leben, ohne Wissen gäbe es keine Möglichkeit, das Dasein, auf welcher Ebene auch immer, zu bestehen. Warum vertreten Sie mit solchem Nachdruck die Ansicht, Wissen verhindere die Erkenntnis?«
Wissen ist stets bedingt. Es macht uns abhängig und bringt daher keine Freiheit. Wir mögen wissen, wie man ein Flugzeug baut und damit in ein paar Stunden an das andere Ende der Welt fliegt, aber das macht uns nicht frei. Wissen ist niemals schöpferisch, weil es Zusammenhang und Fortdauer besitzt. Was aber dauert, bringt uns dem Unbedingten, dem Unwägbaren, dem Unbekannten nicht näher. Wissen ist ein Hindernis für das Einströmen des Unentschiedenen, des Unbekannten. Das Unbekannte kann nicht in das Gewand des Bekannten gekleidet werden, denn das Bekannte ist ja Gewesenes und haust in der Vergangenheit, die ständig die Gegenwart, das Unbekannte überschattet. Ohne Freiheit, ohne unabhängigen, aufgeschlossenen Geist gibt es kein Innewerden. Wissen führt nie zur Einsicht. Wahre Einsicht blitzt nur in der unmessbar kurzen Spanne zwischen zwei Worten oder Gedanken auf. Diese Spanne ist Stille, die nicht durch Wissen gebrochen wird, sie ist aufgeschlossen, unwägbar und unbedingt.
»Aber ist denn Wissen nicht unendlich nutzbringend und wichtig? Wie könnten wir ohne Wissen Entdeckungen machen!«
Entdeckungen kommen nicht zustande, wenn der Verstand von Wissen überquillt, sondern wenn kein Wissen da ist. Dann allein haben wir nämlich jene Stille und Weite in uns, ohne die uns keine Einsicht und keine Entdeckung zuteil wird. Auf einer ganz bestimmten Ebene ist Wissen ohne Zweifel von Nutzen, auf einer anderen stiftet es ebenso sicher Schaden. Dient Wissen dem Ich dazu, sich vor der Welt groß zu machen und aufzublasen, dann bringt es Unheil, indem es zu Spaltung und Feindschaft führt. Alles auf Selbsterhöhung und Selbstausweitung gerichtete Streben des Ichs bedeutet nämlich Zerfall, gleichgültig, ob ihm dabei Gott, der Staat oder eine Ideologie als Vorspann dient. Auf einer Ebene unseres Seins ist Wissen allerdings notwendig, obwohl es auch hier zu Bindung und Abhängigkeit führt: die Sprache, die Technik und so weiter können wir nicht entbehren. Hier dient die Bindung unserem Schutz, sie schafft die Voraussetzung für unser äußeres Dasein und ist insoweit unentbehrlich und berechtigt. Sobald die gleiche Bindung aber auf das Gebiet des Geistigen übergreift, das heißt, wenn dieses Wissen der Herzensträgheit und der Selbstzufriedenheit Vorschub leistet, dann führt es unvermeidlich zu Konflikt und Verwirrung. Im übrigen: was verstehen wir eigentlich unter Wissen? Was wissen Sie zum Beispiel wirklich?
»Nun, ich glaube über alle möglichen Dinge Bescheid zu wissen.«
Sie meinen, Sie haben eine Fülle von Informationen und Daten über die verschiedensten Dinge zur Hand. Sie haben Tatsachen gesammelt – und was weiter? Kann Ihr Wissen um die Zerstörungen des Krieges etwa künftige Kriege verhindern? Sicherlich haben Sie auch eine Menge Daten über die gefährlichen Schäden bereit, die Zorn und Gewalttat in uns selbst und in der menschlichen Gesellschaft anrichten – hat aber dieses gesammelte Material dem Hass und der Zwietracht ein Ende gemacht?
» Das Wissen um die Wirkungen des Krieges führt natürlich nicht unmittelbar das Ende aller Kriege herbei, aber letzten Endes dient es doch der Festigung des Friedens. Die Menschen müssen aufgeklärt und unterrichtet werden, man muss ihnen die Folgen des Krieges wie überhaupt aller Konflikte und Streitigkeiten nachdrücklich vor Augen führen.«
›Die Menschen‹ sind Sie selbst und beliebige andere Leute. Sie verfügen nun über dieses gewaltige Arsenal an Kenntnissen und Informationen, aber sind Sie deshalb um ein Haar weniger ehrgeizig, weniger rücksichtslos, weniger ichbezogen? Sie haben alle Revolutionen studiert und kennen die Geschichte menschlicher Gegensätze: bewahrt Sie das davor, sich überlegen zu fühlen und Ihre persönliche Bedeutung zu betonen? Sie wissen um alles Elend und alle Katastrophen in der Welt – hat Sie dieses Wissen etwa zur Liebe geführt? Ich frage abermals: Was wissen wir? Wovon haben wir Kenntnis?