Gelehrt oder weise? – Teil 2

»Wissen ist die Summe von Erfahrungen, die die Menschheit in Jahrtausenden gesammelt hat. In einer Form ist es Überlieferung, in einer anderen ist es Intuition, beides stammt sowohl aus bewussten wie aus unbewussten Quellen. Unterbewusste Erinnerungen und überlieferte oder selbsterworbene Erfahrung leiten uns an und bestimmen unser Tun und Lassen. Jene verborgenen Erinnerungen aber, die sowohl dem Individuum wie der ganzen Rasse eigentümlich sind, haben deshalb noch besondere Bedeutung, weil sie dem Menschen Schutz und Hilfe gewähren. Und diesen unbezahlbaren Wissensschatz möchten Sie kurzerhand abgeschafft wissen?«

Handeln, das durch Angst verursacht und bestimmt wird, ist kein Handeln. Handeln, das aus den Vorurteilen, Ängsten, Hoffnungen oder Illusionen einer Rasse entspringt, ist abhängig und gebunden, und wir haben gesehen, dass solche Abhängigkeit nur weitere Konflikte und Leiden zur Folge hat. Sie selbst sind zum Beispiel als Brahmine an eine Überlieferung gebunden, die Jahrhunderte zurückreicht, darum reagieren Sie auf Einwirkungen von außen, auf soziale Wandlungen und Konflikte zwangsläufig als Brahmine. Sie reagieren also im Einklang mit Ihrer Bindung, Ihren früheren Erfahrungen und Ihrem Wissen. Das alles ist in jedem Augenblick mit wirksam, und so knüpft jede neue Erfahrung die alte Bindung fester. Erfahrung auf Grund einer Überzeugung oder einer Ideologie ist nur eine Erhaltung dieses Glaubens, eine Verewigung der Idee. Solche Erfahrung stärkt nur die schon vorhandene Überzeugung. Jede Idee wirkt trennend und Ihre Erfahrung auf Grund einer Idee macht Sie noch trennsüchtiger. Erfahrung als Wissen, als angehäufter Stoff macht nur abhängig und dient dem Ich lediglich als Mittel zur Selbsterhöhung. Wissen als Erfahrung auf geistiger Ebene hindert uns daran, Einsichten zu gewinnen.

»Wird denn die Erfahrung wirklich durch unsere Überzeugungen beeinflusst?«

Das liegt doch auf der Hand. Sie zum Beispiel sind durch Ihre besondere Gemeinschaft – die Ihr Ich auf einer anderen, erweiterten Ebene repräsentiert – daran gebunden, an Gott und eine soziale Schichtung zu glauben, ein anderer wiederum ist gebunden, zu glauben, dass es keinen Gott gebe, und in den Kategorien einer von der Ihren grundverschiedenen Ideologie zu denken. Sie beide erfahren das Leben entsprechend Ihren verschiedenen Überzeugungen, aber alle solche Erfahrung ist ein Hindernis für das Einströmen des Unbekannten. Erfahrung, Wissen, das ja Erinnerung ist, sind auf gewissen Ebenen des Daseins bestimmt von Nutzen, aber als Mittel zur Seelenstärkung des Ichs bringen sie nur Illusionen und Schwierigkeiten hervor.

Was können wir noch in uns aufnehmen, wenn unser Geist bis zum Rande mit Erfahrungen, Erinnerungen und Kenntnissen angefüllt ist? Können wir noch etwas erleben, wenn wir wissen? Verhindert das Gewusste nicht alles Erleben? Wahrscheinlich kennen Sie den Namen jener Blume dort, aber hilft Ihnen das auch nur im mindesten, die Blume zu erleben? Zuerst kommt das Erleben, dann gibt man dem Erlebten einen Namen und verwandelt es dadurch in etwas Bleibendes, eine Erfahrung. Dieses Namengeben verhindert dann alles weitere Erleben. Müssen wir uns nicht vom Namengeben, von Assoziationen, von allem Erinnern freimachen, um wirklich erleben zu können?

Alles Wissen ist oberflächlich – wie aber könnte das Oberflächliche in die Tiefe führen? Kann der Verstand, das Ergebnis des Gewussten, des Vergangenen, je über seine eigenen Entwürfe und Vorstellungen hinausgelangen? Wenn es zu Entdeckungen kommen soll, muss er aufhören zu planen und zu entwerfen. Ohne seine Entwürfe hört er aber auf zu sein. Das Wissen, das Vergangene, kann nur planen und entwerfen, was im Bereich des Bekannten ist. Was aber nur mit Bekanntem operiert, kann niemals entdecken. Das Bekannte muss schweigen, damit Entdeckungen gelingen können, die Erfahrung muss schweigen, damit erlebt werden kann. Wissen ist ein Hindernis für das Innewerden.

»Was bleibt uns denn, wenn man uns unser Wissen, unsere Erfahrung und unsere Erinnerung nimmt? Was sind wir dann? Nichts.«

Sind Sie jetzt etwa mehr als das? Wenn Sie sagen, ›ohne Wissen sind wir nichts‹, dann stellen Sie nur mit Worten eine Behauptung auf, ohne dass Sie den Zustand, den Sie meinen, wirklich erlebten. Ist es nicht so? Was Sie zu dieser Behauptung veranlasst, ist Ihre Angst – die Angst, nackt und bloß dazustehen. Ohne dieses ganze Drum und Dran von Wissen und so weiter sind Sie nichts – so ist es in der Tat. Warum schreckt Sie das? Warum wollen Sie es nicht wahrhaben? Wozu soll diese törichte Anmaßung gut sein? Wir haben das Nichts, das wir sind, mit Einbildungen, Hoffnungen und tröstlichen Ideen behängt, aber unter diesen Fetzen sind und bleiben wir nichts, und zwar nicht als gedachte philosophische Abstraktion, sondern in Wirklichkeit nichts. Das Erleben dieses Nichts-Seins ist der Beginn aller Weisheit.

Wie schämen wir uns, einzugestehen, dass wir etwas nicht wissen! Wir suchen unser Nichtwissen durch einen Schwall von Worten und Ausflüchten zu vertuschen. Und doch kennen Sie in Wirklichkeit weder Ihre eigene Frau noch Ihre Nachbarn. Wie könnten Sie auch, da Sie sich selbst nicht kennen? Ich weiß, Sie haben eine Menge Auskünfte, Schlussfolgerungen und Erklärungen über sich selbst zur Hand, aber in Ihrer Bedingtheit haben Sie kein Organ für das, was ist, das Unbedingte. Die Erklärungen und Schlussfolgerungen, die wir kennen, verhindern nämlich das Erleben dessen, was ist. 

Weisheit verlangt Unschuld. Wie aber könnten wir unsere Unschuld erneuern, ohne für die Vergangenheit zu sterben? Dieses Sterben vollzieht sich von Augenblick zu Augenblick, sterben heißt nicht mehr sammeln und häufen, der Erlebende muss für das Erlebte gestorben sein. Ohne Erfahrung, ohne Wissen gibt es auch keinen Erlebenden mehr. Wahrhaft wissen heißt unwissend sein, nicht wissen ist der Beginn der Weisheit.