Genugtuung – Teil 1

Schwere Wolken bedeckten den Himmel, und der Tag war drückend heiß, obwohl eine leichte Brise in den Blättern spielte. In der Ferne rollte Donner, ein leichter Sprühregen löschte den Staub der Straße. Die Papageien flitzten aufgeregt umher und kreischten dazu; auf dem höchsten Ast eines Baumes saß ein Adler, der sich sein Gefieder putzte und dabei gelassen das wilde Treiben unter sich verfolgte. Auf einem anderen Ast hockte ein kleiner Affe, er und der Adler nahmen einander aus sicherer Entfernung genau in Augenschein. Jetzt gesellte sich noch eine Krähe zu den beiden. Nach seiner Morgentoilette blieb der Adler noch eine Weile regungslos sitzen, dann breitete er plötzlich seine Schwingen und strich ab. Außer für die Menschen war der Tag für alle Geschöpfe vollkommen neu und frisch, nichts davon war wie gestern. Die Bäume und die Papageien waren nicht die gleichen, das Gras und die Büsche waren ebenfalls von ganz anderer Art.

Die Erinnerung an das Gestern verdunkelt uns nur das Heute, und der Vergleich verdirbt uns die unbefangene Wahrnehmung. Wie schön waren diese roten und gelben Blumen! Schönheit besteht ja außerhalb aller Zeit und hat nichts mit ihr gemein. Wir Menschen aber tragen unsere Last von Tag zu Tag, und über jeden dieser Tage werfen viele Gestern ihre dunklen Schatten. Unsere Tage sind eine nie ruhende Bewegung, das Gestern fließt in das Heute, das Heute in das Morgen, und diese Kette hat kein Ende. Wir fürchten uns vor dem Enden, wie aber könnte je Neues werden, ohne dass das Alte ein Ende nimmt? Wie sollte es Leben geben, wenn der Tod nicht wäre? Wie wenig wissen wir doch von beiden! Wir haben nur viele Worte und Erklärungen und finden darin unser Genüge. Das Enden wird durch Worte entstellt, es kann sich nur vollziehen, wenn das Wort schweigt. Wir kennen nur das Ende, das uns das Wort vermittelt, aber das Ende ohne Worte, die Stille, die das Wort noch nie bezeichnet hat, die kennen wir nicht. Etwas kennen setzt Erinnerung voraus, Erinnerung hat nie ein Ende, und Begehren ist der Faden, der einen Tag mit dem anderen verbindet. Das Ende des Begehrens ist das Neue. Der Tod ist das Neue, Leben als Fortdauer ist nur Erinnerung, eine leere Hülse. Im Neuen sind Leben und Tod in eins verschlungen.

Ein Knabe kam mit langen Schritten die Straße entlang und sang im Gehen laut vor sich hin. Er lachte allen fröhlich zu, an denen er vorüberkam, und schien eine Menge Freunde zu haben. Seine Kleidung war ärmlich, er trug einen schmutzigen Fetzen um den Kopf, dafür strahlte er über das ganze Gesicht, und aus seinen Augen leuchtete die Lebensfreude. Mit seinen raschen Schritten eilte er an einem dicken Mann vorüber, der eine Mütze trug. Der Dicke watschelte gesenkten Hauptes schwerfällig seines Wegs, beladen mit einer unsichtbaren Bürde von Sorge und Angst. Er hörte gewiss keinen Ton von dem Lied, das der Knabe sang, und hatte nicht einmal einen Blick für den Sänger übrig. Der Knabe eilte weiter durch das große Tor und vorüber an den schönen Gärten, er überquerte die Brücke über den Strom und bog dann gleich in einen Weg ein, der zum Meere führte. Dort gesellten sich ein paar Gefährten zu ihm, und als der Abend dunkelte, begannen sie gemeinsam zu singen. Die Scheinwerfer eines Wagens huschten über ihre Gesichter, ihre Augen waren weit und tief von ungekannten Seligkeiten. Es regnete jetzt in Strömen, und alles triefte von Nässe.

Er war Doktor, nicht nur der Medizin, sondern auch der Psychologie, ein hagerer, ruhiger, verschlossener Mann, der von Übersee in dieses Land gekommen war. In den langen Jahren, die er schon hier war, hatte er sich gut an die Sonne und die schweren Regenfälle gewöhnt. Er sagte, er habe während des Krieges als Arzt und Psychologe gearbeitet und den Menschen nach besten Kräften geholfen, sei aber nie mit dem zufrieden gewesen, was er habe geben können. Er hätte so gern viel mehr gegeben und gründlicher geholfen, sein Bestes sei immer so bitter wenig, alles, was er tue, sei unvollkommen, immer scheine ihm etwas daran zu fehlen.

Wir saßen uns lange gegenüber, ohne ein Wort zu sprechen, während er sich ganz und gar in seinen inneren Nöten verlor. Schweigen ist etwas Seltsames. Denken führt nicht zum Schweigen und baut es auch nicht auf. Schweigen kann nicht künstlich aufgebaut werden, noch gehorcht es dem Willen. Die Erinnerung an Schweigen ist nicht das Schweigen selbst. Das Schweigen hing im Zimmer, dass man das eigene Herz pochen hörte, Worte konnten es nicht mehr brechen. Alles Gesprochene gewann in diesem Schweigen an Bedeutung, das Schweigen war der Hintergrund des Wortes. Das Schweigen deutete die Gedanken aus, und doch waren die Gedanken nicht das Schweigen. Das Denken hatte sich ganz zurückgezogen, nur das Schweigen war gegenwärtig. Und das Schweigen ergriff, durchdrang und deutete aus. Denken kann nicht ergreifen und durchdringen, nur im Schweigen finden wir zueinander.

Der Arzt sagte, er könne an nichts mehr Genüge finden: weder an seiner Arbeit, noch an seinem Können, noch auch an all den Ideen, denen er mit so viel Eifer angehangen habe. Er habe es mit den verschiedensten Methoden der Gedankenschulung versucht, aber keine hätte ihm das gegeben, was er suchte. Im Lauf der vielen Jahre, die er nun hier sei, habe er die verschiedensten Lehrer aufgesucht, unter ihrem Einfluss habe sich jedoch sein Überdruss nur noch verstärkt. Im Verlauf seines Hierseins habe er sich in allen möglichen Ismen, einschließlich des Zynismus geübt, aber seiner Unzufriedenheit sei auch damit nicht beizukommen.