Arbeit – Teil 1
Er stand, glaube ich, im Range eines Ministers, jedenfalls gab er sich sehr überlegen und zeigte eine ausgesprochene Neigung zum Zynismus. Ein Bekannter hatte ihn mitgebracht oder, zutreffender gesagt, hergeschleppt, denn er machte ganz den Eindruck, als ob man ihn damit überrumpelt hätte. Der Bekannte wollte sich über etwas aussprechen und hatte offenbar gemeint, der andere könne ruhig einmal mitkommen, um sich sein Problem mit anzuhören. Der Minister war recht neugierig, schien uns aber doch sehr von oben herab zu betrachten. Er war groß und stark, hatte stechende Augen und verstand seine Gedanken leicht und flüssig zu formulieren. Man hatte sofort den Eindruck, dass er zu jenen Arrivierten gehörte, denen nur noch darum zu tun ist, ihre Erfolge auszukosten. Reisen ist etwas anderes als ankommen. Reisen heißt immer ankommen und immer weiter fahren, die einzige Ankunft, nach der es keine Weiterfahrt mehr gibt, ist der Tod. Wie leicht sind wir zufriedengestellt, wie rasch ist allem Ungenügen Genüge getan! Wir alle suchen ja nur irgendeine Zuflucht, einen sicheren Hafen, der uns Schutz vor Konflikten bietet, und in der Regel finden wir auch, was wir suchen. Der Kluge wie der Tor, jeder findet am Ende seinen Hafen und fühlt sich darin pudelwohl.
»Ich habe seit Jahren versucht, die Antwort auf eine Frage zu finden, die mich dauernd beschäftigt, aber bis jetzt ist es mir noch nicht gelungen. Wie kommt es, dass ich mir die Menschen, mit denen ich zu tun habe, so leicht zu Gegnern mache? Selbst jene, denen ich zu helfen suchte, stellten sich unversehens gegen mich. Wenn ich den einen beispringe, lehnen sich die anderen gegen mich auf. Mit einer Hand gebe ich, mit der anderen scheine ich zu verletzen. So geht es mir schon, seit ich denken kann, eben jetzt habe ich wieder einen Fall, der mich zu hartem Durchgreifen zwingt. Dabei möchte ich wirklich niemandem wehtun. Ich weiß nachgerade nicht mehr, wie ich mich verhalten soll.«
Was ist wichtiger: niemandem wehtun, keine Feindschaft erzeugen oder die Arbeit, die wir leisten möchten?
»Wenn ich eine Aufgabe in die Hand nehme, kommt es zwangsläufig dazu, dass sich der eine oder andere verletzt fühlt. Ich gehöre eben zu den Menschen, die sich Hals über Kopf in die Arbeit stürzen. Fange ich etwas an, so möchte ich es auch durchgeführt wissen. So war ich von jeher, das ist nun einmal meine Art. Ich halte mich selbst für leidlich tüchtig, Trägheit und Untüchtigkeit sind mir ein Gräuel. Wenn wir schon etwas für die Allgemeinheit erreichen wollen, dann müssen wir auch kräftig zupacken, wer da nicht mitmachen will oder aus Unfähigkeit nichts von der Hand bringt, der fühlt sich dann immer gleich verletzt und wird obendrein feindlich. Die Aufgabe, den Menschen zu helfen, ist doch unbestreitbar wichtig. Indem ich sie aber erfülle und jene unterstütze, die die Hilfe am nötigsten haben, tue ich denen weh, die mir dabei im Wege stehen. Ich möchte aber wirklich niemandem wehtun und sage mir daher immer wieder, dass es so nicht weitergehen kann.«
Was ist Ihnen wichtiger: Ihre Arbeit oder niemandem wehzutun?
»Wenn man so viel Elend sieht wie ich und selbst mitten in der Reformarbeit steckt, dann hat man keine Zeit dazu, jedes Wort auf die Waagschale zu legen. Da kommt es schon einmal vor, dass man ohne böse Absicht dem einen oder anderen zu nahe tritt.«
Man rettet einen Teil der Menschen und richtet dabei einen anderen Teil zugrunde. Ein Land lebt auf Kosten eines anderen. Gerade unsere sogenannten ›Geistigen‹ setzen ihren Reformeifer immer nur für einige wenige ein, und indem sie diese retten, vernichten sie womöglich andere, ihr Tun bringt immer Segen und Fluch zugleich. Güte gegen die einen geht anscheinend immer mit Brutalität gegen die anderen Hand in Hand. Warum ist es so?
Was ist Ihnen wichtiger: Ihre Arbeit oder niemandem wehzutun?
»Leider gibt es Menschen, denen man wehtun muss. Es sind die Nachlässigen, die Untüchtigen und nicht zuletzt die Eigensüchtigen. Dieses Wehtun lässt sich beim besten Willen nicht vermeiden. Wirken denn Ihre Reden nicht auch verletzend? Ich kenne zum Beispiel einen reichen Mann, der sich durch Ihre Auslassungen über die Reichen schwer gekränkt fühlt.«
Ich will gewiss niemanden verletzen. Wenn ich durch meine Arbeit anderen Menschen Leid zufüge, dann fühle ich mich verpflichtet, sie einzustellen. Darum halte ich auch nichts von einer schematischen Reform oder Revolution und würde mich nie für so etwas einsetzen. Für mich kommt nicht die Arbeit zuerst, ich will vor allem niemanden verletzen. Sie sagen, der reiche Mann fühle sich durch meine Worte gekränkt. Dennoch wurde er in Wirklichkeit nicht durch mich verletzt, sondern durch die Wahrheit dessen, was ist, die er offenbar nicht schätzt, weil er sich nicht bloßgestellt sehen möchte. Es liegt gewiss nicht in meiner Absicht, andere Leute bloßzustellen, aber wir fühlen uns eben immer für eine Weile bloßgestellt, wenn wir der Wahrheit dessen, was ist, innewerden. Das erste ist dann, dass uns das Bild, das wir sehen, in Zorn versetzt, das zweite, dass wir die Schuld daran flugs auf andere schieben, aber dieses Verhalten ist in Wirklichkeit nur eine Flucht vor den Tatsachen. Es ist immer sehr töricht, sich über eine Tatsache zu ärgern. Einer Tatsache durch Zorn oder Gekränktsein aus dem Wege gehen zu wollen, ist eine der gebräuchlichsten und gedankenlosesten Reaktionen.
Aber Sie sind mir immer noch die Antwort auf meine Frage schuldig – was ist Ihnen wichtiger: Ihre Arbeit oder niemandem ein Leid zuzufügen?
»Meinen Sie nicht auch, dass die Arbeit getan werden muss?« warf der Minister ein.
Warum muss die Arbeit getan werden? Welchen Wert hätte diese Arbeit, wenn Sie Menschen zugrunde richten, indem Sie anderen Menschen helfen? Sie mögen Ihr eigenes Land vor dem Untergang bewahren, aber das gelingt Ihnen nur, indem Sie andere Länder ausbeuten oder in ihrem Bestand gefährden. Warum sind Sie so ausschließlich um Ihr eigenes Land, Ihre eigene Partei, Ihre eigene Ideologie besorgt? Warum gehen Sie in Ihrer Arbeit auf? Warum bewerten Sie überhaupt die Arbeit so hoch?
»Wir müssen doch arbeiten, wirken, sonst hätte das ganze Leben keinen Sinn. Wenn ein Haus in Flammen steht, wie das unsrige, dann heißt es handeln, da bleibt keine Zeit, sich um die letzten und höchsten Dinge zu kümmern.«
Wer ganz im Handeln aufgeht, kümmert sich nie um die letzten und höchsten Dinge. Ihn beschäftigt ausschließlich sein Tun, das ihm wohl flüchtige Freuden, aber auch desto tieferes Leid beschert. Darf ich mir jetzt die Frage erlauben, warum Sie gerade Ihrer Arbeit solche Bedeutung beimessen und warum Sie so sehr an ihr hängen?